Serge Gnabry wechselt zu Bayern München. Das muss man erstmal sacken lassen. Gnabry wird schließlich wissen, dass er sich mit diesem Schritt einem Spießrutenlauf aussetzt, bei dem Kritiker nur darauf warten werden, dass er scheitert. Wieso wechselt ein junger Spieler, der das erste Mal in seiner Karriere eine Saison (halbwegs) vollständig und erfolgreich absolvieren konnte, zu einem Verein, bei dem er fast sicher auf der Bank sitzen wird? Ein Schicksal, das er aus seiner Vergangenheit beim FC Arsenal noch allzu gut kennen sollte. Um den Wechsel zu verstehen, muss man sich Gnabrys Karriereweg anschauen und die Entscheidungen sehen, die er in sportlich kniffligen Situationen getroffen hat. Denn der Nationalspieler mit ivorischen Wurzeln hat in seiner Karriere stets risikobereit gehandelt und im Zweifel immer auf sich gesetzt.
Vertraue keinem, außer dir selbst
Serge Gnabry ist wie ein Pokerspieler, der aggressiv seine Chips in die Mitte setzt, um alle von seiner starken Hand zu überzeugen. Statt geduldig am Tisch zu sitzen, seine Gegenspieler zu analysieren und mit Bedacht erfolgsversprechende Hände zu spielen, nutzt er gerne die Gelegenheit, alle anderen unter Druck zu setzen, um Konkurrenten einzuschüchtern und die Fäden selber in der Hand zu haben. Schon als 15-Jähriger Nachwuchsspieler in Stuttgart wurde er zu einem der größten deutschen Talente gehyped und unterschrieb ein Jahr im Voraus bei Arsenal London, obwohl Jugendspieler erst mit 16 Jahren ins Ausland wechseln dürfen. Andere hätten sich für den ruhigen Karriereaufbau in beschaulichem Umfeld entschieden, nicht aber Gnabry, der seine Chancen maximieren wollte. Selbst wenn die Stuttgarter in den vergangenen Jahren eine höhere Durchlässigkeit für Jugendspieler bewiesen hätten, wäre Gnabry kaum zu halten gewesen. Zu verlockend war das Angebot aus England, sich in einer der renommiertesten Akademien zu beweisen und seinen Marktwert zu steigern, statt in Stuttgart auf eine vergebliche Profiversetzung zu warten.
In London durchlief er die Akademie u.a. gemeinsam mit Hector Bellerin und debütierte schnell in der Premier League und im FA Cup. 2013/14 schien er kurz vor dem Durchbruch zu stehen und fand sich immer öfter in der Mannschaft von Arsene Wenger, doch Verletzungen warfen den jungen Deutschen immer wieder zurück. Dieser setzte weiter auf sich selbst und versuchte in verschiedenen Leihgeschäften auf sich aufmerksam zu machen, ohne rechten Erfolg damit zu haben. Das immer noch hochveranlagte Talent haderte und sah keine wirklichen Chancen, seine Vorzüge unter Beweis zu stellen, denn mit einem Fußball á la West Bromwich Albion haben Filigrantechniker wenig gemeinsam. Während sich Gnabry langsam aber sicher vom Radar Arsenals entfernte, blieb er stets auf dem der deutschen Auswahlmannschaften und fand vor allem in Horst Hrubesch einen steten Unterstützer. Dieser berief ihn trotz mickriger elf Saisoneinsätze, davon neun in der U21 von Arsenal und West Brom, in den Olympiakader für Rio. Für Gnabry sollte es endlich die Chance werden, auf die er seit zwei Jahren warten musste. Er wusste, dass er mit guten Leistungen auf einer der größten Fußballbühnen seinen Stapel Chips in die Mitte schieben könnte.
Sinnbildliche zehn Monate
Es kam, was kommen musste. Gnabry spielte ein überragendes Turnier, schwang sich mit sechs Toren zur olympischen Torjägerkanone und begeisterte Fans und Verantwortliche gleichermaßen. Arsene Wenger bot ihm prompt eine Vertragsverlängerung an, die Gnabry im Wissen seiner starken Verhandlungsposition dankend ablehnte. Wieder darauf zu hoffen, irgendwie in den Kader oder zu Einwechslungen zu kommen, war nicht der gewünschte Weg des Olympiahelden, der weiterhin das große Scheinwerferlicht genießen wollte. Da sich aber keine großen Vereine nach dem Geschmack des Offensivspielers meldeten, sollte es die Zwischenstation Werder Bremen werden, um im Anschluss daran höhere Weihen zu erfahren. Und Gnabry konnte mit seiner Spielweise das Sprungbrett Bremen gewiss nutzen.
Gerade zu Beginn der Hinrunde konnte der Jungnationalspieler an seine Leistungen in Rio anknüpfen, verzückte das Bremer Publikum mit seinen Stärken und kam sogar zu seinem Debüt bei Bundes-Jogi. Seine größte Waffe ist klar seine Geschwindigkeit, die ihn zu einem gefährlichen Spieler macht, sobald sich ein wenig Raum vor ihm bietet. Ausgestattet mit einem wahnsinnig schnellen ersten Schritt, kommt Gnabry spielend leicht an Verteidigern vorbei und setzt sich mit seinem Tempo schnell von ihnen ab. Als hilfreich erweist sich hier auch seine ausgesprochen gute Technik, die ihn zu einem echten Tempodribbler werden lässt. Der 21-Jährige ist mit einem enormen Zug zum Tor ausgestattet und agiert am liebsten als linker Außenspieler. Gerne gibt er den spiegelverkehrten Robben und sucht den Weg in die Mitte, um mit seinem starken rechten Fuß abzuschließen. Sein Signature Move? Von links in den Strafraum ziehend, geht er in vollem Tempo auf das Tor zu, um dann aus spitzem Winkel mit einem flachen Innenristschuss den Ball zielgenau knapp neben dem rechten Pfosten zu versenken. Oft genug kann er in diesen Situationen aber auch einen offenen Mitspieler finden und den Ball querlegen, womit er in der laufenden Saison immerhin 31 Torschüsse vorbereiten konnte. Ebenfalls in zentraleren, offensiven Positionen fühlt sich Gnbary sichtlich wohl und nutzt seinen niedrigen Körperschwerpunkt für schnelle Richtungswechsel und sein gutes Passspiel (77% Erfolgsquote) für ein flüssiges Ballzirkulieren. Insgesamt ist er mit einer großen Spielfreude auf dem Feld unterwegs und fühlt sich in fast allen Offensivrollen wohl, am liebsten in solchen, in denen er selber zum Abschluss kommen kann. Hier zeigte sich der Neu-Bayer sehr effektiv in den vergangenen Monaten. Bei Olympia reichten ihm noch sechs Treffer in sechs Spielen zur Torjägerkanone, in der laufenden Bundesligasaison erzielte er dann auch noch elf Treffer für Werder. Beeindruckend ist dabei seine Quote. Während er zwar fünf Torschüsse pro Tor braucht, sind mit elf Treffern aus 21 Schüssen auf das Tor über die Hälfte dieser Versuche erfolgreich. Gnabry konnte seit den olympischen Spielen beweisen, dass er einer der komplettesten deutschen Nachwuchshoffnungen ist, der immenses offensives Potenzial besitzt und mit seinem Zug zum Tor spielentscheidend sein kann.
Passt der Wechsel?
Nun hat er es also auf die große Bühne geschafft, um dort seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Schon bei seinem Wechsel zu Werder machte das Gerücht die Runde, dass die Bayern ein Vorkaufsrecht auf Gnabry besäßen. Dieses Gerücht wurde von allen Beteiligten verneint, abgesehen vom Spieler selbst, der sich stets diplomatisch gab in Interviews. Er konzentriere sich nur auf Bremen und wolle möglichst nach Europa mit der Mannschaft, alles andere zeige sich schon danach. Ein klares Bekenntnis klingt anders. Ein klares Bekenntnis hat aber wohl kaum jemand erwartet, der den Spieler kennt. Gnabry hat sich die große Tür immer aufgelassen und als Rummenigge und Co. durch den Spalt lugten, musste er All-In gehen. Sein Marktwert hat mit zehn Millionen Euro ein vorläufiges Maximum erreicht und die vergangene Rückrunde hat bereits angedeutet, dass die erfolgreiche Spielweise Nouris seit Januar nicht unbedingt mit Gnabrys Stärken übereinzubringen war. Zu eingespielt war das Sturmduo Bartels/Kruse, zu wenig Mittelstürmer steckt in Gnabry, zu wenig defensives Verständnis bringt er für die Mittelfeldzentrale mit, als dass er ohne Weiteres Stammspieler hätte wieder werden oder bleiben können. Von daher macht ein Wechsel generell erst einmal Sinn.
Doch ob er sich mit einem Wechsel nach München einen Gefallen tut? Warum sollte er sich nicht in die illustre Runde von Alexander Baumjohann, Jan Schlaudraff oder Nils Petersen einreihen, die allesamt nach einer starken Vorsaison mit einem Wechsel zu Bayern einen Karriereknick erlebten? Fragen, die nicht so leicht zu beantworten sind. Drei Faktoren müssen hier miteinbezogen werden, um das Wechsel- und Zukunftspotenzial einschätzen zu können: Gnabrys Schwächen, der Münchener Kader und die Einstellung des Spielers.
Perspektiven
Bei allen offensiven Hervorhebungen müssen diese in Perspektive gesetzt werden. Da wäre zum einen das teilweise sehr ineffiziente Spiel des Nationalspielers, der nicht einmal die Hälfte seiner Dribblings erfolgreich gestalten kann und sich zu oft verrennt. Zum anderen liebt Gnabry das Ronaldo’sche Dribbling fast so sehr wie sein Urheber und stirbt lieber in Schönheit, als den einfachen Pass zu wählen. Folglich verliert er häufig den Ball und setzt seine Defensive unter Druck. Für diese ist er nämlich keine Bereicherung, wenn der Gegner den Ball hat, da ein defensives Verständnis kaum vorhanden ist, wie die Spiele im zentralen Mittelfeld der Werderaner gezeigt haben. Daher war er auch für die Außenpositionen im Bremer 3-1-4-2 nicht zu gebrauchen. In Zweikämpfen zeigt er sich trotz robuster Statur bei geringer Größe (1,71m) eher unterentwickelt und verliert die meisten Duelle. Gnabry ist ein erfolgsversprechender Faktor, wenn er in für sich günstige Positionen gebracht wird, andernfalls schadet er seiner Mannschaft.
Bei den Bayern kommt er also nur für die offensiven Flügelpositionen oder als Thomas Müller-Ersatz, wenn Bayern noch einmal mit einem hängenden Stürmer spielt, in Frage. Er könnte gewiss perspektivisch eine neue Flügelzange mit Coman bilden, es bleibt jedoch abzuwarten, ob auch die Bayern-Bosse so viel Geduld aufbringen oder nicht lieber auf teureren Ersatz pochen für Robben oder Ribery. Abhängig davon ob Costa bleibt, was durch die Verpflichtung nicht wahrscheinlicher geworden ist, reiht sich Gnabry also erst einmal auf der Bank ein und wartet auf Einsätze. Gemeinsam mit Robben auf dem Platz dürften beide wohl zu ballfixiert und zentral orientiert sein. Sie würden damit Lewandowski die Luft zum Atmen nehmen. Gnabry mag zwar spielerisch gut in die Münchener Elf passen, aber er hebt sich mit seinen Fähigkeiten von niemandem im Kader ab, sondern wirkt wie ein Ersatzteil, das nur benötigt wird, wenn ein Originalteil kaputtgeht. Auch als Ersatzstürmer kommt er eigentlich nicht in Frage. Er hat zwar Potenzial dafür, jedoch noch lange nicht auf Bayern-Niveau.
Bayerns deutsche Bank?
Es wird also auf Gnabrys Einstellung ankommen und die Frage, ob er bereit ist, sich hintenanzustellen und auf seine Chance wohlmöglich länger zu warten. Diese Geduld hat der Spieler bei seinen letzten Stationen nicht beweisen können, sondern ergriff stets die nächste Gelegenheit, an anderer Stelle aufzutrumpfen. Er mag zwar nun am vermeintlichen Ziel seiner Träume angekommen sein, die eigentliche Arbeit wird aber erst der tägliche Trainingskampf mit Ribery, Robben, Müller, Coman und Co. Gnabrys durchaus selbstbewusste, fast hochmütige Herangehensweise kann sich demnach als problematisch herausstellen, wenn er seine Chancen nicht erhalten sollte bzw. nicht auf dem Level, das er erwartet.
Ein abschließendes Fazit fällt schwer. Eigentlich kann sich der Spieler im Kader der Bayern kaum durchsetzen und der Wechsel wirft zu viele Fragen auf. Eine interessante Möglichkeit scheint eine kolportierte Leihe nach Hoffenheim zu sein, um dem Spieler direkt Spielpraxis zu geben. Der Wechsel zeigt aber allemal, dass die Bayern aus den Schwierigkeiten der letzten Transfers gelernt haben und ihren Fokus wieder auf deutsche Spieler legen, wie ebenfalls die Wechsel von Rudy und Süle nahelegen. Die Verantwortlichen an der Säbener Straße scheinen es vorzuziehen, diese Allrounder, zu denen gewiss auch Gnabry gehört, lieber auf die Bank zu setzen oder auszuleihen, als sie dauerhaft bei der Konkurrenz auftrumpfen zu lassen. Ein Mantra, das sich durch die bayrische Fußballhistorie zieht. Für Gnabry selbst ist es schlicht die Chance, dem eigenen Selbstverständnis zu entsprechen. Auch wenn er wohl wieder länger auf die Chance warten muss, auf sich selbst zu setzen und es allen zu zeigen. Wir dürfen aber sicher sein, dass er dann alles auf sich setzt.