Davie Selke: Götterdämmerung in der Hauptstadt

Seit seinem umstrittenen Wechsel zu dem damaligen Zweitligisten RB Leipzig gilt Davie Selke als Unsympathieträger des deutschen Fußballs: geldgierig, charakterlos, furchtbare Frisur. Insofern dürfte sein Wechsel nach Berlin bei manchem Hertha-Fan gemischte Gefühle hervorgerufen haben. Doch Selke ist mehr als nur ein wandelnder Münzschlucker mit miserabler Außendarstellung – in Berlin könnte seine Ankunft gar eine Zeitenwende einleiten. Mindestens. Findet jedenfalls unser Redakteur Christoph Rehm.

Die Zahlen lassen aufhorchen: 8,5 Millionen Euro wird der Hauptstadtclub dem Vernehmen nach für den elfmaligen U-21-Nationalspieler nach Leipzig überweisen. Hinzu kommen vermutlich weitere Bonus- und Sonderzahlungen im Erfolgsfall, welche die Ablösesumme auf über 10 Millionen Euro anheben dürften. Ein stolzer Betrag für einen Spieler, der vor zwei Jahren für knapp 8 Millionen Euro nach Leipzig wechselte und in der vergangenen Saison auf gerade einmal 436 Spielminuten kam – dem neuen Milliardenvertrag der Bundesliga und allen Chinesen zum Trotz. Doch das Heranziehen der reinen Nettospielzeit, welches von Kritikern des Transfers derzeit bemüht wird, ist eine äußerst verkürzte Darstellung der fußballerischen Entwicklung Selkes in den verganenen zwei Jahren: Zum einen ist da die Konkurrenz im Kader von RB Leipzig in Person von Timo Werner oder Youssef Poulsen, welche durchaus die Berechtigung besitzt, ebenfalls die eine oder andere Minute Spielpraxis zu bekommen. Zumal Selke, Punkt zwei, schlichtweg nicht die Art von Stürmer ist, von welchem Ralph Hasenhüttel nachts in seinen Pressingträumen schwärmte. Limitiertes Passspiel, Mängel in der Spielübersicht und Schwächen in der Rückwärtsbewegung begrenzten in der vergangenen Spielzeit die Möglichkeiten, Selke in Leipzigs Mannschaftsverbund zu integrieren. Poulsen und Werner entwickelten sich hingegen zu Sinnbildern von Hasenhüttls varbiablem Dauerpressingsystem.

Bester RB-Spieler in der Box

Selke selbst kann jedoch auch einige Argumente für seine Person vorweisen: Vier Tore und eine Vorlage in der genannten Nettospielzeit sind nachweislich die Quote eines Topstürmers. In der U21-Nationalmannschaft kam Selke regelmäßig zum Einsatz, erzielte in der vergangenen EM-Qualifikation sieben Tore. Und selbst Ralph Hasenhüttl kam paradoxerweise zu der öffentlichen Einschätzung, Selke sei mit seinen Abschlussqualitäten vermutlich der „beste RB-Spieler in der Box“. Nachweis genug also für die Qualitäten des 22-Jährigen, der sicherlich alle Fähigkeiten mitbringt, sich in einem ambitionierten Bundesligaverein einen Stammplatz zu ergattern: schnell, beweglich, lauf- und kopfballstark, eine ordentliche Ballbehandlung, dazu durch seine Mentalität und Kampfstärke befähigt, eine hohe Pressingintensität mitgehen zu können. Und schließlich die genannte Abschlussstärke, welche ihn in Kombination mit seinen zentrumsorientierten Laufwegen zu einem typischen Zielspieler im vorderen Drittel macht. Ein Mittelstürmer klassischer Gestalt, vor einigen Jahren noch totgesagt, der jedoch spätestens seit der Überfrachtung der Spielsysteme mit der abkippenden Neun seit der vergangenen EM wieder eine Renaissance erfährt. Hoffenheim mit Sandro Wagner und eben auch die Hertha mit Vedad Ibisevic haben in der vergangenen Saison gezeigt, dass sich auch mit klassischen Strafraumstürmern moderner – und vor allem erfolgreicher – Fußball spielen lässt. Womit wir bei der Frage der Integration Selkes in Herthas Spielsystem angekommen wären.

Schleichende Wachablösung

Die eigentliche Krux der Verpflichtung von Davie Selke liegt weniger in der Frage, ob knapp 10 Millionen Euro Ablöse nun gerechtfertigt sind oder nicht. Tatsache ist: einen solchen Betrag schüttelt man in Berlin nicht aus jenem Sparschwein, das die Putzfrauen im Sozialraum der Geschäftsstelle platziert haben. Angesichts des Ablöserekordes ist kaum zu erwarten, dass man Selke als Nachwuchshoffnung für das Perspektivteam verpflichtet hat. Vielmehr wird er berechtigte Ansprüche auf einen Platz in der ersten Elf erheben – jenen Platz, der bisher für Kapitän und Leistungsträger Vedad Ibisevis reserviert war. Ähnlich wie Selke agiert dieser vornehmlich als kopfball- und abschlussstarker Zielspieler in Herthas präferiertem 4-2-3-1-System. Und ähnlich wie Selke gilt dieser nicht unbedingt als technisch herausragender Spieler mit beeindruckendem Passspiel, der nur darauf wartet, seinen Sturmpartner in Szene setzen zu können. Es scheint daher unwahrscheinlich, dass Selke und Ibisevic – selbst in einem möglichen System mit zwei Spitzen – als gemeinsames Sturmduo eingeplant sind, um die taktische Flexibilität in Dardais bisweilen recht starrer, taktischer Ausrichtung zu erhöhen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Selke gezielt als Eins-zu-Eins-Ersatz für den alternden Stoßstürmer der Hertha verpflichtet wurde, der zunehmend Defizite in Antritt und Pressingausdauer aufweist. Die Unterschrift Selkes stellt somit eine schleichende Wachablösung in Berlins Sturmzentrum und ein klares Signal an den Platzhirsch Ibisevic dar, der trotz Vertragslaufzeit bis 2019 vor seinem letzten Jahr bei der Hertha stehen dürfte.

Umbruch im Mannschaftsgefüge

Will Pal Dardai das Offensivspiel der Hertha nachhaltig weiterentwickeln, stellt die Ankunft Selkes allerdings auch eine Verpflichtung dar. Selke wird, mehr noch als Ibisevic, auf die Zuarbeit durch die Flügelspieler angewiesen sein – eine Baustelle, auf welcher Berlin bislang noch nicht internationale Klasse vorweisen kann. Dies drückt sich auch statistisch aus: für einen Torerfolg nach Flanken brauchte die Hertha in der vergangenen Saison im Schnitt 7,6 Hereingaben – ein eher unterdurchschnittlicher Wert im ligaweiten Vergleich. Flügelspieler Genki Haraguchi blickt auf eine eher durchwachsene Saison zurück, ebenso Salomon Kalou, der – sollte es in naher Zukunft keine medizinische Sensation geben – auch nicht jünger wird. Alexander Esswein agierte zumeist solide, große Entwicklungssprünge sind mit 27 Jahren von ihm allerdings auch nicht mehr zu erwarten. Angesichts der bevorstehenden Dreifachbelastung scheint es daher unumgänglich, dass die Hertha-Verantwortlichen für eine höhere Quantität und Qualität auf den Flügeln sorgen – nur dann wird man Selke wie gewünscht in Szene setzen können. Somit wird die Verpflichtung des U21-Nationalspieler auch in dieser Hinsicht eine personelle Neuausrichtung des Offensivverbundes mit sich bringen und mittelfristig für einen Umbruch im Mannschaftsgefüge sorgen.

Die Moral der Geschichte

Auch wenn Selke – wie hier beschrieben – auf den ersten Blick eine Eins-zu-Eins-Alternative zu Vedad Ibisevic darstellt, wird sich durch seine Verpflichtung das Spiel der Hertha in der kommenden Saison nachhaltig verändern. Vielleicht nur in Nuancen aufgrund der höheren Pressingausdauer Selkes. Vermutlich jedoch vor allem durch eine deutlich höhere Gewichtung der offensiven Außenbahnen im Spiel nach vorne. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass Selke die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt: als ballsicherer Zielspieler im Zentrum agiert, die gegnerischen Innenverteidiger bindet und im Idealfall zum Saisonende eine zweistellige Trefferzahl vorweisen kann. Gelingt ihm dies auf Anhieb, wird er schneller zum neuen Gesicht des berliner Offensivspiels werden, als man „Bosnien-Herzegowina“ buchstabieren kann.

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