Zu Beginn des neuen Jahres wollen wir einen Blick in die großen europäischen Ligen werfen und küren dort die besten jungen Spieler, die unter 21 Jahre alt sind. Den Anfang machen wir in der Bundesliga, in der sich gleich einige Spieler anbieten. Den größten Entwicklungssprung hat jedoch eindeutig der Leverkusener Julian Brandt gemacht. Im Januar noch ein mehr als verheißungsvolles Talent, das in erster Linie eingewechselt wurde, sprang er durch eine atemberaubende Rückrunde noch fast auf den EM-Zug auf. In Rio kürte er sich zum olympischen Silbermedaillengewinner, um schließlich in der aktuellen Hinrunde zu einem unumstrittenen Stammspieler bei der Werkself zu werden. Für uns Grund genug, ihn zum „Talent of the Year“ zu ernennen.
Same same, but different
Zugegeben, Julian Brandt ist keine überraschende Wahl. Dafür ist sein Name zu etabliert in der Branche, schließlich wird er seit seinem Wechsel zu Leverkusen im Januar 2014 als eines der vielversprechendsten Talente Deutschlands gehandelt und beäugt. Ausgezeichnet mit der Fritz-Walter-Medaille in Gold 2014 und als Newcomer des Jahres 2015 durch 11Freunde, könnte man auch meinen, dass man ihn anno 2016 bzw. 2017 nicht mehr als „Talent of the Year“ auszeichnen müsse. Doch gerade im abgelaufenen Kalenderjahr hat Julian Brandt es geschafft, die Hoffnungen, die in ihn gesteckt wurden, zu übertreffen. 2016 hat Brandt eine Entwicklung abgeschlossen: mit dem Jahreswechsel wird aus dem Talent Julian Brandt der Ausnahmekönner Julian Brandt, der seine Leistungen bestätigen muss. Im Alter von 20 Jahren ist er endgültig ein unverzichtbarer Teil seiner Mannschaft geworden.
Gerade das unterscheidet ihn von anderen Bewerbern um den Titel „Talent of the Year“. Joshua Kimmich hat ebenfalls ein herausragendes Jahr hingelegt, inklusive Europameisterschaft, aber im Team der Bayern gibt es sowohl im Mittelfeld (Vidal, Thiago) als auch als Rechtsverteidiger (Lahm) aktuell Spieler, die ihm vorgezogen werden. Ousmane Dembele bringt Fertigkeiten mit, die in der Bundesliga zwar ihresgleichen suchen, sein Einfluss auf das Dortmunder Spiel ist aber nicht mit Brandts zu vergleichen. Dafür hat Dortmund schlicht und einfach noch bessere Spieler. Und „Golden Boy 2016“-Gewinner Renato Sanches hat zwar eine überragende Rückrunde bei Benfica gespielt und überzeugte mit Portugal bei der EM, aber seine Hinrunde in der Bundesliga war bisher recht dürftig. Auf das ganze Jahr gesehen überzeugt keiner dieser Spieler so sehr wie Brandt.
Die Leichtigkeit des Fußballspielens
Julian Brandt vereint Schnelligkeit mit perfekter Technik. Er kann sowohl durch einen herausragenden Antritt punkten, mit dem er leicht an Gegenspielern vorbeikommt, als auch durch eine überragende Ballan- und mitnahme, bei der der Ball jederzeit am Fuß zu kleben scheint. Abgerundet werden seine Fähigkeiten durch ein Passspiel, bei dem Zuspiele punktgenau ankommen und Abwehrreihen im Wochen- oder 3-Tages-Rhythmus seziert werden. Brandt schafft es, Chancen zu kreieren oder auch selbst zu nutzen, je nach Spielsituation. Am liebsten zieht er dabei von der linken Außenbahn nach innen. In diesen Situationen kann er durch kurze Doppelpässe mit Stürmern oder nachrückenden Mittelfeldspielern stets gefährlich vor dem Tor auftauchen. Alles unterlegt mit einer spielerischen Leichtigkeit, die ihn von fast allen Bundesligaspielern unterscheidet. Sei es ein ansatzloser Schuss aus der zweiten Reihe, eine schnelle Kombination am Strafraumrand oder ein durchgesteckter Ball in den Strafraum, Brandts Aktionen haben Hand und Fuß, wirken flüssig und zielstrebig.
Dass seine Fähigkeiten keine brotlose Kunst sind, zeigen seine Werte des vergangenen Jahres. Bei den erfolgreichen Dribblings liegen aktuell nur Naby Keita und Ousmane Dembele vor ihm. Darüber hinaus befindet sich Brandt in den Top 10 bei Torschussvorlagen und führt die Liga bei kreierten Großchancen gemeinsam mit Dembele an. Die beiden weisen ohnehin fast identische Statistiken für die Hinrunde auf. Das ist insbesondere erstaunlich, wenn man die jeweilige Hinrunde Dortmunds und Leverkusens betrachtet. Beide Mannschaften liegen zwar hinter ihren Ambitionen zurück, doch Dortmund erzielte immerhin zwölf Treffer mehr als Leverkusen. Brandt sticht in einer leicht schwächeren Mannschaft noch einmal mehr heraus und legt erstaunliche Zahlen auf.
Doch während beide in der Hinrunde noch nicht als Torjäger aufgefallen sind (Dembele mit vier Treffern und Brandt mit derer zwei), hat der junge Leverkusener am Ende der Rückrunde 2015/16 in dieser Hinsicht Besonderes geleistet. Brandt gelangen zwischen dem 27. und 32. Spieltag sechs Treffer in sechs aufeinanderfolgenden Bundesligapartien, eine Marke, die erst zehn Spieler in über 50 Jahren Bundesliga übertroffen haben. Insgesamt kommt Brandt im Jahr 2016 auf jeweils neun Tore und Assists in der Bundesliga. Dass er nebenbei noch acht Mal Champions League gespielt hat, in der Nationalmannschaft debütiert hat und neun Torvorlagen bei den olympischen Spielen beigesteuert hat, versteht sich von selbst. Alles von einem Spieler, der sich im Laufe des Jahres endgültig erst in die Stammaufstellung der Leverkusener spielen konnte.
Der Kopf ist seine größte Stärke
Möchte man Schwächen finden, so muss man Brandt gerade in der laufenden Saison einen mangelnden Zug zum Tor vorwerfen. Er sucht zu oft noch das Abspiel, statt selber den Abschluss zu suchen. Nur sechs Torschüsse in 16 Partien sind deutlich zu wenig für seine Verhältnisse, so erklärt sich aber auch seine magere Ausbeute von zwei Saisontoren bisher. Ansonsten gibt es im Spiel nach vorne wenig zu meckern bei dem Jung-Nationalspieler. Nach hinten hat er noch reichlich Potenzial nach oben. Er bezeichnet sein Defensivverhalten selbst als „bratwurstig“, gerade in Zweikämpfen hat er zu oft das Nachsehen. Häufig passen Stellungsspiel und Timing nicht im Spiel gegen den Ball, sodass er zu selten Faktor bei gegnerischem Ballbesitz ist. Man muss jedoch auch festhalten, dass das nicht von Brandt verlangt wird. Seine Fähigkeiten am anderen Ende des Platzes und sein junges Alter entschuldigen die Defizite allemal.
Grund für Optimismus ist vor allem seine Abgeklärtheit und seine Bodenhaftung. Brandt wird als intelligent, wissbegierig, aufnahmefähig und bodenständig beschrieben. Der 20-jährige, der sich am liebsten im Elternhaus vom stressigen Profi-Alltag erholt, kommt in Interviews sehr überlegt daher, verändert gerne auch die eigene Perspektive und macht einen erfrischend ehrlichen Eindruck. Alles Indizien, die für einen einwandfreien Charakter sprechen, der es im Weltfußball weit bringen kann. Nicht umsonst werden englischen Spitzenvereinen und dem FC Bayern bereits seit längerem Interesse an ihm nachgesagt.
Über Leverkusen in die weite Welt?
Obwohl er seine Stärken am ehesten über den linken Flügel einbringen kann, wird er von Roger Schmidt äußerst variabel im Offensivspiel eingesetzt. Egal ob auf der rechten Seite, als hängende Spitze oder in vorderster Front, überall kann Brandt den Leverkusener weiterhelfen. Gar nicht auszudenken, wo die Rheinländer in der Tabelle stehen könnten mit einer fitten Flügelzange aus Karim Bellarabi und dem jungen Nationalspieler. Leverkusens System unter Roger Schmidt ist wie gemacht für Julian Brandt und kommt ihm eindeutig zugute. Das laufintensive Spiel, das stets Lücken hinter der Abwehrreihe sucht, passt perfekt zu ihm. So kann er seine Stärken in der Geschwindigkeit und in seinen Abspielen hervorragend einbringen, und dient auf der linken Seite als konstante Anspielstation.
Wenn man ihn bei Leverkusen beobachtet und in die Vergangenheit der Werkself schaut, dann fallen zwei Namen auf, mit denen man Brandt leicht vergleichen kann: Andre Schürrle und Heung-Min Son. Beide Spieler waren zu Leverkusener Zeiten linke Außenbahnspieler mit Zug zum Tor, die technisch überaus beschlagen waren. Beide wechselten in jungen Jahren nach Leverkusen und zogen danach weiter nach England. Parallelen, die sich auch bei Brandt auftun können. Schürrle wechselte 2013 für 22 Mio. Euro zum FC Chelsea und Son 2015 sogar für 30 Mio. Euro zu den Tottenham Hotspurs. Beide Marktwerte waren zum Zeitpunkt des Verkaufs mit Brandts aktuellem Wert von 16 Mio. Euro vergleichbar. Daher ist ein Wechsel, sollte er denn wechseln, im Bereich jenseits der 30 Mio. Euro wahrscheinlich, gerade wenn man die momentanen Ablösesummen betrachtet. Natürlich nur für den Fall, dass Brandt keine Ausstiegsklausel besitzt, wie mehrere Medien spekulieren. Sollte sich eine Klausel in Höhe von +/- 12 Mio. Euro bewahrheiten, kann ein Verein im kommenden Sommer ein echtes Schnäppchen machen.
Denn sollte die Entwicklung von Julian Brandt in diesem Tempo weitergehen, kann sich ganz Fußball-Deutschland auf eine neue Konstante in der Nationalmannschaft freuen. Brandt kann und wird den internationalen Fußball erobern, dafür ist er schlicht und einfach zu gut. Als Bundesliga-Fans können wir nur hoffen, dass wir ihn möglichst lange samstagsnachmittags beobachten dürfen. Denn Brandt ist so gut, dass man ihn am besten live beobachten sollte, um sich vollends zu überzeugen.