Leverkusens jüngster Transfer ist eine Ansage: bis zu 20 Millionen für ein 19-jähriges Sturmjuwel, welches zu einem bestimmten Zeitpunkt auch ganz oben auf dem Wunschzettel von ManUnited Coach Mourinho gestanden haben und dort unter anderem den wechselwilligen Memphis Depay ersetzen sollte, der sich ja nun Lyon angeschlossen hat. In letzter Minute drohte Hull City noch dazwischen zu grätschen, doch Bayer übersprang das Tackling gekonnt. Wie bereits vor Wochen von uns hier empfohlen, wechselt mit Bailey also der nächste hochveranlagte Außenbahnspieler in den Kader der Werkself. Der junge Jamaikaner ist wohl Verstärkung und Kompensation zugleich, denn hinter den etatmäßigen Flügelspielern steht für die Zukunft ein großes Fragezeichen: Bleiben Brandt und Bellarabi über den Sommer hinaus in Leverkusen? Schafft Bailey endgültig den Durchbruch? Wir von TK haben uns wie immer pünktlich hinter die Tastatur geklemmt und verraten euch Fakten über Leon Bailey, die ihr so wahrscheinlich noch nicht gehört habt.
Bailey – Grenzgänger mit dubioser Vergangenheit
Normalerweise findet ihr an dieser Stelle immer detailgetreue Beschreibungen des Lebenslaufs und der sportlichen Stationen eines Spielers. Anders im Fall Bailey: das Talent umwabert der Dunst einer mysteriösen Vergangenheit, die auch wir wahrscheinlich nicht abschließend klären können. Mit Hornbrille und Trenchcoat bewaffnet habe ich mich unauffällig der Aufgabe verschrieben, für euch etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Die Geschichte des jungen Leon beginnt wohl in einem Garrison (jamaik. Begriff für einen ghetto-ähnlichen Vorort) von Kingston. Nachdem Bailey (offizieller Name Leon Bailey Butler) wohl schon als Kind von Craig Butler, einem jamaikanischen Trainer und Spieleragenten, adoptiert wird, verschlägt es ihn laut einiger Quellen zunächst in seiner Jugend für kurze Zeit unter ebenfalls fragwürdigen Umständen nach Europa. Nur kurze Zeit später folgt die Rückkehr in die Heimat und Bailey schließt sich der jamaikanischen Phoenix Soccer Academy, zufälligerweise geleitet von eben jenem Adoptivvater Craig, an. Nachdem Butler, der neben Leon Bailey auch seinen zweiten (Adoptiv?)-Sohn (ihr seht, wie kompliziert es ist) Kyle Butler betreut, beide Talente bereits zu ihrer Zeit in der Phoenix Academy bei Europas Vereinswelt angepriesen hatte, wurde er – als Besitzer eines lokalen Fußballteams in einen Rechtsstreit mit dem örtlichen Verband verwickelt – von der Kingston and St. Andrews Football Association (KSAFA) auf unbestimmte Zeit von allen Aktivitäten des lokalen Fußballgeschäfts gebannt.
Welchem Krimi-Liebhaber und Hobby-Tatort-Zuschauer unter euch das noch nicht genug ist, es wird noch verworrener: Adoptivvater Craig macht sich mit seinen beiden Söhnen endgültig auf nach Europa und lässt diese bei verschiendenen Vereinen (u.a. dem FC Liefering in Österreich) vorspielen. Über den slowakischen AS Trenčín landen die beiden schließlich in Genk – und hier driftet die Story endgültig in die Sphäre des Unglaublichen. Während beide mit einer Jugendmannschaft des Vereins trainieren, aber noch keinen offiziellen Vertrag besitzen, befindet sich Vater Butler warum auch immer in Mexiko. Was folgt, klingt eigentlich wie direkt aus einem modernen Actionthriller entnommen: vier Monate lang verschwindet Craig Butler von der Bildfläche, gibt kein Lebenszeichen von sich. Später wird er von einer Entführung des mexikanischen Kartells berichten; in dieser Zeit kümmert sich der Verein um die beiden Teenager und nimmt sie schließlich unter Vertrag. Ob traumatisierendes Ereignis oder ausgeklügelter Schachzug, um die Aufenthaltserlaubnis der beiden Jungs zu verlängern und die Chancen auf eine Verpflichtung zu erhöhen – Leon Bailey umgibt ein wahres Mysterium.
In Genk allerdings entwickelte sich Bailey prächtig: mittlerweile kommt der Jungspund auf 77 Profieinsätze für den belgischen Topclub, in denen er als Torschütze und als Vorbereiter glänzen konnte. Unter Peter Maes und auch Neu-Coach Albert Stuivenberg gesetzt, gefordert und gefördert, wagt Bailey also nun den nächsten Schritt und läuft fortan für die Werkself auf.
Hans Dampf in allen Gassen
Kommen wir zu Baileys Stärken, die sich wie aus dem Flügelflitzer-Lehrbuch lesen lassen: Ähnlich des Wolfsburger Neuzugang Ntep verfügt Bailey über ein unglaubliches Tempo in seinem Spiel, welches in der Bundesliga wohl am ehesten mit der Geschwindigkeit eines Aubameyang zu vergleichen ist (letzterer kann sich ja bekanntlich demnächst mit Usain Bolt messen). Durch seinen Antritt und seinen vertikalen Zug ist Bailey wie gemacht für das Umschaltspiel der Leverkusener: wenn er mit einem Steilpass auf die Reise geschickt wird, ist er nun sehr schwer zu stoppen – dies zeigt auch die Auswertung von Scoutingvideos seiner Zeit in Belgien. Wenn er den vertikalen Gang ins letzte Drittel des Spielfelds geht, um dann nach innen zu ziehen und entweder selbst den Abschluss sucht oder seinen Sturmpartnern gekonnt auflegt, sind seine Aktionen nur schwer zu verteidigen. Bailey verfügt im Vergleich zu einigen Spielern seiner Zunft, die fast ausschließlich durch ihre Schnelligkeit punkten, jedoch über die technische Raffinesse, sich im 1-gegen-1 durchzusetzen; seine Dribblings sind, insbesondere, wenn er mit vollem Tempo auf die gegnerischen Abwehrspieler zusteuert, nur sehr schwer auszubremsen. Entweder Bailey setzt sich durch oder er zieht das Foul – welches das Verteidigungsspiel für den Gegner zusätzlich erschwert.
Bailey ist nicht nur in seinem Leben, sondern auch auf dem Rasen ein wahrer Grenzgänger. Oft nah an der gegnerischen Verteidigungslinie stehend, operiert er an der Grenze zum Abseits, sucht geschickt Räume und Gassen, in die er dann mit viel Dampf stößt und Räume reißt. Hinzu kommt die Unbekümmertheit und der Spielwitz, die Bailey an den Tag legt. Leichtigkeit kennzeichnet sein Spiel und er verschafft sich zusätzliche Raumgewinne durch Aktionen, die der Ottonormalo nur durch monatelanges Üben auf dem Controller erzeugen könnte. Bailey ist Prototyp eines modernen Außenbahnspielers, der mehrere klassische Spielertypen vereint: Geschwindigkeit der 7, Dynamik und Zug der neu-modischen 8 und Technik der 10 beschweren dieser Naturgewalt in den Kinderschuhen einen hohen Wert auf der Richterskala.
Die Schwächen, die man in Baileys Spiel anführen kann, sind in dem systemischen Anspruch Leverkusens und in der Kehrseite einer seiner Stärken zu suchen: taktische Disziplin und Ballverliebtheit. Es bleibt abzuwarten, inwiefern und vor allem wie schnell Bailey das fordernde Spielsystem Roger Schmidts adaptieren kann; Ausdauer, Laufbereitschaft und hohe Konzentration sind fortan für den jungen Jamaikaner, der in Genk viele Freiheiten besaß, nicht mehr nur in der Vorwärtsbewegung, sondern auch im Gegenpressing gefordert. Hier muss das Juwel deutlich zulegen, bringt jedoch die Anlagen dazu mit. Obwohl Bailey als Vorbereiter in Genk in Erscheinung getreten ist, wirkt er in manchen Aktionen zu sehr überzeugt von seinen eigenen Fähigkeiten und verliert ab und zu den Mitspieler aus den Augen – dies ist jedoch eher Kritik auf ganz hohem Niveau, manchmal ist es ratsam, Spielertypen für ihren Eigensinn, der gepaart mit dem nötigen Repertoire an fußballerischem Können, nicht über zu kritisieren.
Leon der Profi: Roger und Rudi als Weichensteller für den D-Zug
Der ein oder andere aufmerksame TK-Leser wird gemerkt haben, dass ich Vincent Thill und sein Umfeld in meinem „Talent oft he Year“-Artikel besonders dafür gelobt habe, behutsam die richtigen Entscheidungen auf und neben dem Platz zu treffen. Dies trifft im Fall Bailey nicht zu: Der Junge steht insbesondere aufgrund seines dubiosen Berater-Vaters, der ihn wohl auch dazu anhielt, das Training in Genk zu schwänzen, um einen Wechsel nach Leverkusen zu forcieren, an der Schwelle, schon früh den Stempel enfant terrible aufgedrückt zu bekommen. Hier könnten der Taktikfanatiker Schmidt und zukünftiger Ziehvater Rudi Völler entscheidenden Einfluss nehmen: Beide tolerieren keine großen Ausreißer und Unruheherde rund um die BayArena. Dies könnte sich für Bailey und Leverkusen als wichtige Kombination hervortun: Was Bailey fehlt, um ein ganz Großer zu werden, ist neben Erfahrung vor allem Überlegtheit, Disziplin und Professionalität.
Mit dem in die Jahre gekommenen Kießling, dem immer wieder in der Kritik stehenden Chicharito, einem schwächelnden Mehmedi wird Bailey definitiv zu seinen Einsätzen kommen, sieht sich mit Calhanoglu, Brandt und Bellarabi jedoch auch mit überragender Konkurrenz auf den Flügeln konfrontiert. Wahrscheinlich ist, dass Bailey erste Einsätze in der Rückrunde sammelt und im neuen Jahr voll durchstartet – eventuell auch, weil Abgänge im Raum stehen. Wie dem auch sei, Bailey ist Soforthilfe und Zukunftsversprechen zugleich. Ob er den Sprung vom Mysterium zum Mythos schafft, wird sich in nicht allzu ferner Zukunft zeigen.