Es gab nicht wenige Experten, die hatten damit gerechnet, dass Lars Stindl von Bundestrainer Joachim Löw für die beiden letzten Länderspiele der Saison in Frankreich und gegen Holland in Hannover nominiert würde. Zumal das zweite Spiel in Hannover stattfand, der ehemaligen Heimat des Allrounders, der zu Beginn der Saison nach Mönchengladbach wechselte. Dort erlebte er eine schwere Zeit, aber in den vergangenen Wochen zeigte er, warum die Borussia sich so ins Zeug legte, um ihn zu verpflichten.
Wie kam der Wechsel zustande?
Diesen Wechsel nahmen ihm selbst die Fans aus Hannover nicht übel. Zwar war Lars Stindl Kapitän des „kleinen HSV“ und absoluter Führungsspieler. Doch die Chance, in der Champions League seine Spuren zu hinterlassen, die wollte ihm keiner verbauen. Zumal er eine dramatische Saison mit dem Fast-Abstieg gerettet hatte. Mit 10 Saisontoren und fünf Assists war er der entscheidende Mann im Kampf um den Klassenerhalt. Alleine in den letzten neun Spielen, als es um die Wurst ging, traf er sechsmal und bereitete ein Tor vor. Bestechend war seine Kaltblütigkeit vor dem Tor: Acht Großchancen zählten die Statistiker für ihn, fünf von ihnen verwandelte er – ein Chancentod sieht anders aus.
Dass er sich für Mönchengladbach entschied, hatte mehrere Gründe. Mit einer fest geschriebenen Ablösesumme von drei Millionen Euro war Stindl ein absolutes Schnäppchen. Das ließ mehrere Klubs neugierig werden, der FC Schalke und Borussia Dortmund fühlten vor. Auch Bayer Leverkusen setzte alles daran, den in Speyer geborenen Profi zur Werkself zu holen.
Der aber sagte „Ja“ zur Borussia, nach vielen Gesprächen mit den Klub-Verantwortlichen, seinem Berater und seiner Frau, die er im Juni heiratete. Die Entscheidung für die „Elf vom Niederrhein“ hatte weniger finanzielle, als vielmehr sportliche Gründe: Während Bayer zum Beispiel mit Hakan Calhanoglu, Stefan Kießling und Admir Mehmedi zwei Spieler für das offensive Zentrum im Kader hatte, war diese Position in Mönchengladbach durch den Verkauf von Max Kruse weitgehend verwaist. Stindl konnte sich also ausrechnen, bei der Borussia eher Fixpunkt zu werden als in Leverkusen. Für ihn war auch klar: die rechte Seite sollte es nicht mehr sein. „Ich hatte unheimlich schöne Jahre auf der rechten Seite, fühle mich aber doch im Zentrum wohl. Da kann ich dem Spiel noch mehr Impulse geben“, sagte er im Sommer in einem Interview mit dem kicker-sportmagazin.
Die Hoffnungen, die Gladbachs Sportchef Max Eberl und Trainer Lucien Favre im Hinblick auf diese Verpflichtung hatten, deckten sich durchaus mit den Vorstellungen des Spielers. Stindl damals im Interview: „Sie haben mir ein klares Konzept aufgezeigt, wie sie mit mir planen, wo der Verein hin will. Und sie haben nie locker gelassen. Das hat mich beeindruckt.“
Doch zunächst kam alles anders als gedacht. Die dramatische Entwicklung rund um Trainer Lucien Favre gehört zu den rätselhaftesten Geschichten dieser Saison. Dass ausgerechnet Stindl – für den dieser Trainer ein Hauptgrund war für seinen Wechsel – vom Wechsel von Favre hin zu Andre Schubert am meisten profitierte, zeigt die Unberechenbarkeit des Fußballs.
Wie bringt er sich ins Team ein?
Im ersten Pflichtspiel lief noch alles perfekt. Im Pokalfight beim FC St. Pauli agierte Stindl auf der Sechserposition, verbuchte eine Menge Ballkontakte, gute Balleroberungen und häufig tauchte er im Strafraum auf – zwei Tore waren der Lohn beim 4:1-Sieg gegen den Zweitligisten. Doch als es eine Woche später Ernst wurde, da schauten sich nach dem Schlusspfiff alle Gladbacher nur noch schockiert an: 0:4 in Dortmund, ein totaler Blackout des gesamten Teams, ein kompletter Systemausfall – dem weitere folgen sollten.
Für Lars Stindl begann eine unerfreuliche Odyssee durch das Team. Von der Doppelsechs rückte er auf die Zehn, von dort auf die rechte Außenbahn und schließlich saß der Hoffnungsträger auf der Bank. Genau an dem Spieltag, an dem alles explodierte, war Stindl abgeschrieben. In Köln spürte er 90 Minuten die harte Ersatzbank unter sich, die Borussia verlor das Derby beim 1. FC Köln, der gesamte Verein stand unter Schockstarre: null Punkte nach fünf Spielen, so etwas hatte es noch nie gegeben.
Am Tag danach trat Favre zurück und buchstäblich niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Mit Andre Schubert übernahm der U23-Trainer als Notlösung – heute wissen wir alle, was daraus wurde. So wie aus schimmligem Brot Penicillin gewonnen werden kann, so entstand aus den Trümmern der ersten Spiele plötzlich eine neue Mannschaft. Und Lars Stindl startete durch.
Sieben Spiele absolvierte die Borussia unter Schubert, der längst einen Cheftrainer-Vertrag unterzeichnet hat. Sechs Siege und ein Unentschieden brachten nicht nur 19 Punkte, sondern auch den Durchmarsch von Platz 18 auf Rang sechs. Und Lars Stindl ist in dieser Zeit zu genau der Verstärkung gewachsen, die man sich in Mönchengladbach erhoffte.
Schubert nominierte den schwarzhaarigen Dauerläufer umgehend in der offensiven Zentrale. Josip Drmic, der Mittelstürmer-Neueinkauf aus Leverkusen, landete auf der Bank. Gemeinsam mit dem Brasilianer Raffael fungiert Stindl nun als „Spielmacher-Sturmspitze“. Dabei kommt ihm seine „defensive“ Vergangenheit zugute: Er ist stark in der Balleroberung und sich für keinen Weg nach hinten zu schade. Mit Raffael veranstaltet er ein Wechselspiel in der gegnerischen Hälfte, das den Gegner immer wieder vor das Problem stellt, da er nicht weiß, auf wen er sich konzentrieren muss. Wie bei einem Pendel rückt mal der eine Angreifer, dann wieder der andere nach vorne. Weil beide Spieler viele Ballkontakte wollen und sich gerne ins Mittelfeld zurückfallen lassen, verlassen die gegnerischen Innenverteidiger häufig ihre Position und sorgen so für eine Instabilität der Viererkette. Es ergeben sich Lücken, in die auch immer wieder die schnellen Außenspieler der Borussia stoßen, die entweder selbst abschließen oder auch häufig bis zur Grundlinie kommen und von dort die nachrückenden Stürmer bedienen.
In den Spielen gegen Augsburg, Schalke, Frankfurt oder Wolfsburg agierte Stindl klar über dem Schnitt, heute weiß jeder, warum ihn die Borussia holte. Obwohl vom Naturell eher ein ruhiger Typ, tritt er auf dem Rasen als absoluter Leader auf, der mehr wert ist als die nackten Zahlen aussagen. Vier Tore und drei Assists verbucht er seit dem Abschied von Lucien Favre, an dem er sich durchaus mitschuldig fühlt. Selbstkritisch wie wenig andere Profis sagte er unlängst: „Dass ich vorher die Leistung nicht so gezeigt habe, lag an verschiedenen Dingen. Aber hauptsächlich an mir persönlich.“
Fazit:
Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Diesen Weg hat Stindl gefunden und ist längst die Verstärkung, die sich die Borussia erhoffte. Und man darf davon ausgehen, dass die Entwicklung der vergangenen Wochen kein Strohfeuer ist. Weder für die Mannschaft noch für Stindl, der auf seiner Wunschposition zu der Stärke gefunden hat, die ihn vor der Saison zu einem der begehrtesten Spieler auf dem Markt gemacht hatte.