Wenn man bei einem Ratespiel etwas erraten soll, dann hat man in der Regel dafür drei Versuche. Sind die ersten beiden Chancen vertan, muss die dritte einfach sitzen. Klappt es auch dann nicht, ist man gescheitert.
Ähnlich verhält es sich mit Andre Schürrle: Die Borussia aus der Westfalenmetropole ist der dritte Versuch Schürrles, bei einem Topclub seine volle Leistung abzurufen. Dass er es kann, hat er bei Bayer Leverkusen vor Jahren bewiesen und auch in der Nationalmannschaft hat Schürrle zumeist ansprechende Leistungen erbracht. Bei Chelsea und den Wölfen aus der Autostadt wollte es allerdings nicht wirklich klappen.
Dortmund ist Andre Schürrles letzte Chance, sich bei einem Topclub zu beweisen, sollte es hier nicht klappen, ist wohl niemand bereit, nochmal so viel Geld für ihn in die Hand zu nehmen und Schürrle wäre, zumindest vorerst, bei den Topclubs gescheitert. Da trifft es sich gut, dass mit Thomas Tuchel einer seiner größten Förderer das Steuerrad in der Hand hat.
Von Mainz bis Rio: Die Reisen des Andre S.
Andre Horst Schürrle ist 25 Jahre alt, in diesem Alter überlegen andere Fußballer ihren Heimatverein zu verlassen, aber zählen wir doch kurz mal auf, wo Schürrle schon überall war: Mainz (bis 2011), Leverkusen (bis 2013), Chelsea (bis 2015) und jetzt Dortmund, zwischendurch in Rio Weltmeister geworden und auch noch die Vorlage zum entscheidenden Tor gegeben. In Leverkusen hat er in 2 Jahren und 65 Einsätzen 31 Scorerpunkte gesammelt (18 Tore/13 Assist), waren es in 44 Premier League Einsätzen 14 (11Tore/3 Assist) und nach seiner Rückkehr in die Bundesliga in 43 Spielen 18 (10 Tore/ 8 Assist). Die Statistiken sind also nicht die schlechtesten, aber trotzdem wurde Schürrle nirgendswo so glücklich, dass es ihn über einen längeren Zeitraum hielt oder der Verein ihn wirklich halten wollte. Alle diese Stationen im Lebenslauf kann man also entweder so bewerten, dass Schürrle ein Gescheiterter ist, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist, auf der anderen Seite spricht es aber auch für eine Erfahrung, die der sehr jungen Dortmunder Borussia nach diesem Umbruch sehr gut tut.
Brudis
Bei Borussia Dortmund trifft Andre Schürrle nach seinen häufigen Wechseln auf die pure Wohlfühlatmosphäre. Mit Thomas Tuchel lenkt sein Förderer die Geschicke der Mannschaft und mit Marco Reus und Mario Götze trifft er auch noch auf zwei Freunde. Also alles perfekt, um wieder durchzustarten, oder?
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Thomas Tuchel war bei Schürrles Verpflichtung die treibende Kraft. Er ist sich also sicher, dass der Flügelspieler unter seiner Regie sein volles Potenzial abrufen kann. Das hat er scheinbar Aki Watzke und Michael Zorc so glaubhaft erklärt, dass sie mit der Überweisung von 30mio Euro den teuersten BVB Einkauf aller Zeiten tätigten. Jetzt könnte man angesichts dieses Rekordes von Druck sprechen. Der Druck ist tatsächlich da, allerdings aus anderen Gründen: Andre Schürrle wurde, ähnlich wie Götze, auch geholt, um mit seiner Erfahrung im Team Verantwortung zu übernehmen. Ein Gros der Dortmunder Sommertransfers sind vielversprechende Talente, nach den Abgängen der gestandenen Hummels, Gündogan und Mickytarjan muss aber ein Vakuum aufgefüllt werden. Und zwar sofort! Und nicht im Laufe der Saison. Die Talente werden Zeit benötigen und sie bekommen, Schürrle, Götze und Marc Bartra von Barca allerdings nicht. Schürrle muss also schnell wieder zu seiner alten Form finden und das Ganze in einem enormen Konkurrenzkampf. Auf dem Flügeln muss er sich mit Reus, Mor, Dembele, Durm, Guerreiro, Pulisic und möglicherweise Aubameyang um die wenigen Plätze streiten. Denn eins ist sicher: auch wenn die Talente Zeit bekommen, wollen sie nicht auf der Bank sitzen. Mit 25 Jahren ist Schürrle ein alter Hase im Team Tuchels, das stark verjüngt wurde. Für Aki Watzke war dieser Schritt allerdings „alternativlos“.
Zusammen mit seinen Brudis Reus und Götze könnte Schürrle beim BVB eine starke offensive Mittelfeldreihe bilden. Die drei verstehen sich, kennen sich aus dem Nationalteam und Reus und Götze haben auch schon früher beim BVB zusammen gespielt. Ergänzt durch einen flexiblen 8er, der in der Vorwärtsbewegung aus der Dreier eine Viererreihe macht, wäre das ein recht ordentlicher Angriff. Reus und Schürrle spielen allerdings beiden gerne auf dem linken Flügel. Reus könnte in die Mitte ausweichen, wenn Götze die flexible 8 gibt und somit den Platz auf links räumt. Marco Reus ist in dieser Beziehung deutlich flexibler als Schürrle, obwohl sich die beiden sonst sehr ähnlich sind. Wie auch Reus fällt Schürrle in die Kategorie Tempodribbler, der allerdings auch viel Platz braucht, um seine Geschwindigkeit zu nutzen. Auf engen Raum hat Schürrle Nachteile gegenüber der Dortmunder Konkurrenz. Mit viel Platz bewegt er sich gerne die Linie entlang, um den Ball in die Mitte zu bringen, eine Bewegung die wir aus dem Weltmeisterschaftsfinale 2014 nur allzu gut kennen. Wie auch andere Linksaußen kann Schürrle, bei ausreichendem Platz, aber auch in Mitte ziehen und den Abschluss selbst suchen. Er hat eine hervorragende Schusstechnik, die allerdings sehr risikoreich angelegt ist. So ist Schürrles Schuss ab der 30m Marke eine echte Waffe, die leider oftmals mit Platzpatronen geladen ist. Trifft er den Ball richtig, fallen Tore die in jeder Abstimmung der Sportschau landen, trifft er nicht richtig, und das ist öfter der Fall, geht er genauso in die Extreme. Denn setzt er zu tief an und schaufelt den Ball, dann geht dieser deutlich über das Gehäuse. Trifft er den Ball zu hoch, dann rutscht er ihm mit ungeheurer Geschwindigkeit über den Fuß und er kullert dem Torwart in die Arme. Hop oder Top. Diese Eigenschaft ist allerdings so lange kein Problem, wie ein paar Treffer dabei sind. Stellen sich Dortmunds Gegner hinten rein und das ist vermutlich auch nächste Saison das probateste Mittel gegen die Tuchelelf, dann wird es schwerer für ihn. Allerdings können seine gefährlichen Fernschüsse dann ein wichtiges Stilmittel und ein Türöffner für zerfahrende Partien werden. Defensiv ist Schürrle bemüht aber wenig nützlich, sein Passspiel ist in der schnellen Vorwärtsbewegung recht effektiv, beim Verlangsamen des Spiels oder Abbrechen eines Angriffes aber oftmals schlampig.
Alles auf Anfang
Fassen wir zusammen: Andre Schürrle trifft bei der Borussia aus Dortmund auf seinen persönlichen Garten Eden. Der Trainer ist sein alter Förderer und seine Mitspieler Freunde. Fußballerisch passt er als mit seiner Erfahrung und seinen Qualitäten auch. Er kann junge Talente anleiten und Marco Reus Platz auf der Außenbahn einnehmen, falls dieser mal wieder verletzt sein sollte. Dass jener verletzungsfrei bleibt, ist nämlich statistisch leider eher unrealistisch. Schürrle ist schnell und bei schnellem Umschaltspiel werden sich ihm hervorragend nutzbare Räume bieten und ansonsten kann er mit guten Fernschüssen den gegnerischen Torwart testen. Das Feld ist bereitet und Schürrle kann mit seinem dritten Versuch beweisen, dass er doch in der Lage ist, bei einem Topclub sein volles Potential abzurufen.