James Rodríguez: Puzzleteil im System Ancelotti

Mit James Rodríguez präsentieren die Münchner Bayern nicht nur den spektakulärsten Bundesligatransfer des Sommers. Sie verpflichten auch den Wunschspieler von Trainer Carlo Ancelotti – dem dieser Neuzugang eine ganze Reihe neuer, taktischer Optionen eröffnet. Mit seinen Fähigkeiten als Ballverteiler, Spielermacher und unberechenbare Größe im MIttelfeld kommt dem 26-jährigen Kolumbianer dabei die Rolle des Schlüsselspielers im System Ancelotti zu.

Es war einer jener Momente der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien, die der Nachwelt für immer im Gedächtnis bleiben. Einer jener Momente, die sinnbildlich für einen Spieler, eine Mannschaft oder eben ein ganzes Turnier stehen können. Jener Moment, als James Rodríguez einen Kopfball von Abel Aguilar mit dem Rücken zum Tor annahm, sich drehte und mit seinem linken Fuß den Ball aus 25 Metern volley unter die Latte drosch. Mit einer Selbstverständlichkeit, als sei dies für ihn ungefähr auf dem Schwierigkeitsgrad eines Memoryspiels für Kleinkinder angesiedelt. Ein Moment für die Ewigkeit, der ihn schlagartig zum Weltstar machte. Ein unbekannter Taugenichts war der offensive Mittelfeldspieler des AS Monaco bis dato freilich nicht gewesen – doch mit diesem Turnier, mit diesem Tor hatte er der ganzen Welt sein unglaubliches Können gezeigt und wurde im Anschluss von der Presse bereits als legitimer Nachfolger seines Idols Zinedine Zidane gefeiert. Wenig überraschend daher auch der Wechsel zu Real Madrid kurze Zeit später – jenen Verein, den Zinedine Zidane 2002 zum Champions-League-Sieg gegen Bayer Leverkusen geschossen hatte. Mit seinem linken Fuß. Volley. Aus der Drehung.

Einmal WM-Held und zurück

WM-Held, Rekordablöse und das Trikot mit der Nummer 10 – der Weg zum absoluten Topstar bei Real Madrid schien vorgezeichnet. Doch einer guten Saison unter Carlo Ancelotti mit dreizehn Toren und ebenso vielen Assists folgte der Karriereknick. Unter Rafa Benîtez und Zinedine Zidane konnte der Kolumbianer den Erwartungen nur noch selten gerecht werden. Systembedingt fand er keinen Platz in Reals Starensemble, das zumeist ohne echten Spielmacher hinter den Spitzen agiert. Als Box-to-Box-Spieler erhielten in der Regel Luka Modric oder Toni Kroos neben Casemiro auf der 6 den Vorzug, zuletzt spielte er in Zizous Planungen sogar überhaupt keine Rolle mehr. Stattdessen Eskapaden außerhalb des Platzes, eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 100km/h auf der Madrider Stadtautobahn und der Bruch mit seinem einstigen Vorbild Zidane, den er bei einer Auswechslung als „Motherfucker“ bezeichnet haben soll. James hatte sich selbst ins Abseits katapultiert.

Keine Hackentricks vor dem Schwimmbad

Dabei stand und steht sein Talent weiterhin außer Frage. In der kolumbianischen Nationalmannschaft ruft er regelmäßig jene Fähigkeiten ab, die ihn 2014 zu einem der begehrtesten Mittelfeldspieler der Welt machten – vielleicht auch, weil er dort die Freiheiten genießt, die er für sein variables, temporeiches Spiel braucht. Mal lässt er sich ins defensive Mittelfeld fallen und holt dort die Bälle ab. Mal weicht er auf den Flügel aus und nutzt die Räume auf der Außenbahn für seine Dribblings. Mal stößt er in das Sturmzentrum uns sucht selbst den Abschluss. Dabei zeigt er allerdings immer eines: eine tiefgreifende Spielintelligenz. James ist mehr als nur ein begnadeter Techniker, der auf dem Parkplatz vor dem Schwimmbad den Ball auf der Hacke jongliert, um damit ein paar Mädchen zu beeindrucken. Er besitzt das periphere Sehen, um unter höchstem Gegnerdruck im Augenwinkel den freistehenden Mitspieler auf dem Flügel wahrzunehmen. Er hat das intuitive Gespür für den Schnittstellenpass aus dem Fußgelenk. Und er agiert vor dem Tor entschlossen und abgeklärt wie ein internationaler Topstürmer. Vor allem aber besitzt er die Fähigkeit, innerhalb von Sekundenbruchteilen die richtige Lösung für eine Spielsituation zu finden. Und genau diese Handlungsschnelligkeit unterscheidet ihn von all den hoch veranlagten Offensivspielern, bei denen man das Gefühl nicht los wird, sie hätten ihr ganzes Leben für einen Zirkusauftritt trainiert.

Geniestreiche auf Kosten der Defensive

Wie es sich jedoch für einen hochbegabten, offensiven Mittelfeldspieler gehört, zählt die Disziplin in der Rückwärtsbewegung nicht zu jenen Dingen, von denen James einfach nicht genug bekommen kann. In der Defensive hält James seine Position nicht immer mit vollem Enthusiasmus ein, beim Verschieben spekuliert er gerne auf Ballgewinne der Mitspieler auf dem Flügel und setzt sich bereits etwas von seinem Gegenspieler ab, um im Umschaltspiel einen Bewegungsvorsprung zu bekommen. Gelingt dies, kann man es getrost als antizipierten Geniestreich werten. Schlägt der Ballgewinn fehl, entstehen im Zentrum Räume, die durch das Herausrücken des 6ers oder 8ers schnell eine Kettenreaktion auslösen können. Auch dies ein Grund, weshalb sich Benîtez und Zidane vor allem in den Schlüsselspielen häufig für die defensiv stabiler agierenden Modric und Kroos im Zentrum entschieden.

Wer muss weichen?

Carlo Ancelotti, der bekannt dafür ist, seinen Spielern auf dem Platz mehr Freiheiten einzuräumen, als mancher seiner Kollegen, sah während seiner Zeit bei Real James Rodriguez diese Unachtsamkeiten nach – wohl mit ein Grund, weshalb sich der 26-jährige für einen Wechsel nach München entschied. Stellt sich jedoch die Frage, was der italienische Coach mit seinem kolumbianischen Neuzugang in der bayrischen Hauptstadt vorhat. In den Medien wird bereits wild über eine Ausbootung Thomas Müllers diskutiert, die Aussage Karl-Heinz Rummenigges, Müller müsse „eine stärkere Saison hinlegen“ als Warnschuss für den formschwachen Oberbayern interpretiert. Tatsächlich ist die Antwort auf die Frage nach der Einbindung James‘ in die Mannschaft der Bayern jedoch vielschichtiger und keineswegs eindeutig prognostizierbar. Vorstellbar ist sicherlich, dass James die Position Müllers hinter Lewandowski einnimmt. Vermutlich wird Ancelotti jedoch vermehrt rotieren lassen und hierbei James in erster Linie auf dem linken Flügel einsetzen. Dafür spricht nicht nur die Flexibilität des Kolumbianers, sondern auch die Tatsache, dass nach dem Abgang von Douglas Costa ernsthafte Alternativen für den verletzungsanfälligen Ribery fehlen.

Das System Ancelotti

Mittel- bis langfristig drängt sich jedoch eine dritte Option als die wahrscheinlichste auf: dass Ancelotti das Spielsystem der Bayern grundlegend reformiert und – wie zu seinen Zeiten beim AC Mailand – seine Mannschaft gänzlich ohne typische Außenbahnspieler agieren lässt. Somit würde James gemeinsam mit Müller hinter Lewandowski auflaufen – und die alternden Stars Robben und Ribery außen vor bleiben. Dafür spräche die Tatsache, dass James als Flügelspieler immer wieder den Weg ins Zentrum sucht, anstatt auf der Außenlinie zu verharren und so mehr die Rolle eines Halbfeldspielers einnimmt. Ebenso bliebe die Möglichkeit, James in diesem 4-3-2-1-System eine Reihe zurückzubeordern und als offensivstarken 8er auflaufen zu lassen – beispielsweise neben Thiago und Vidal. Gegen internationale Topmannschaften würde dies aufgrund der fehlenden Konsequenz in der Rückwärtsbewegung des Kolumbianers gewisse Risiken mit sich bringen. Ginge es hingegen darum, eine Mannschaft im Zentrum zu bespielen, wäre es für das gegnerische Team kaum möglich, sich auf eine derartige Mittelfeldformation einzustellen.

Emanzipation von Guardiola

Selbst wenn Ancelotti zunächst an der erprobten, taktischen Ausrichtung festhalten sollte, um den alternden Stars Ribery und Robben nicht völlig vor den Kopf zu stoßen – der Neuzugang aus Madrid wird künftig eine Schlüsselrolle in den Planungen des Trainerstabs einnehmen. Als variabler Mittelfeldspieler stellt er das fehlende Puzzleteil in den Planungen des italienischen Trainers dar, der mit James taktisch flexibler und damit unberechenbarer agieren kann. Ähnlich wie Seedorf oder Kaká bei Mailand werden James dabei in München Freiheiten eingeräumt werden, von denen er unter Zidane nur träumen konnte. Die Bayern emanzipieren sich damit weiter von der Spielweise Pep Guardiolas, dessen Formation sich in erster Linie an dem Konzept des offensiven Zonenspiels orientiert hatte und auch von den Kreativspielern höchste Disziplin im taktischen Verhalten erforderte. Trotz einer bislang nicht gekannten Dominanz in der Bundesliga blieb Guardiola damit der ganz große Erfolg auf europäischer Ebene verwehrt. Ob Ancelotti nach einer – für Münchner Verhältnisse – wenig zufriedenstellenden Saison in der kommenden Runde an seine Erfolge in Mailand und Madrid anknüpfen kann, bleibt eine spannende Frage. Eine Frage, die maßgeblich mit der Person James Rodríguez verknüpft sein wird.

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