Im Sommer fand beim BVB ein Aderlass statt, der nicht nur einen strukturellen Umbruch des Kaders notwendig gemacht hat, sondern auch das Selbstverständnis des Klubs gewissermaßen verändert hat: man befinde sich in einer Übergangsphase, sei nun eine Top-Adresse für internationale Talente – ja, man wähnt sich selbst auch nach den Abgängen der letzte Jahre (Götze, Lewandowski, Gündogan, Hummels) eher als Ausbildungsklub. An wen erinnern diese Sachverhalte? Richtig, an die Borussia vom Niederrhein. Seit jeher steht die Fohlenelf für das Paradebeispiel eines Ausbildungsplatzes hungriger Talente, die erst den nächsten vor dem großen Schritt zu einem Spitzenklub machen wollen. Dem BVB ist also etwas widerfahren, das seinem Namensvetter vom Niederrhein in nahezu jeder Saison bevorsteht: eine Neuerfindung der Mannschaft. Doch der Schein trügt, der BVB ist mitnichten nur ein Ausbildungsverein. Klar, irgendwie ist in der Bundesliga doch jeder Verein außer dem Branchenprimus aus dem Süden Deutschlands ein Ausbildungsverein – doch der BVB ist eben auch ein europäischer Spitzenklub, eine Top-Adresse im deutschen Fußball. Dies zeigt auch der aktuelle Wechsel des Lehrlings Mo Dahoud, dessen bisherigen Ausbildung und seinen weiteren Weg beim Ruhrpottunternehmen wir von Transferkritiker hier für euch analysieren.
Ein Vorbild für viele: aus Syrien in die Bundesliga
Mahmoud Dahoud, Jahrgang 1996, wird in Amude, einer Stadt nahe der syrisch-türkischen Grenze geboren. Als Säugling flieht er mit seinen Eltern vor der Unterdrückung im vorderasiatischen Staat, der heute mehr durch die Verbrechen des IS als durch die damalige Unterdrückung des immer-noch-Machthabers Assad in den Schlagzeilen steht. Die Familie sucht Asyl in Deutschland, findet Zuflucht im Rheinland – und der kleine Mahmoud schnappt sich täglich das runde Leder, um mit gleichaltrigen und gleichgesinnten auf dem Parkplatz Fußball zu spielen. Auf dem harten Parkett, das weiß jeder, der selbst einmal in einem umzäunten Betonkäfig auf engstem Raum gekickt hat, zählen vor allem Dinge wie Durchsetzungsvermögen, Einfallsreichtum, Technik. Diese Attribute zeichnen den Fußballer Dahoud noch heute aus.
Zunächst bei der Düsseldorfer Fortuna ausgebildet, zieht es den Deutsch-Syrer nach kurzer Zeit aus den elterlichen Gefilden ins Jugendinternat der Borussia – ein neues Fohlen betrat den Stall. Gladbachs Erfolgstrainer Lucien Favre wurde in der Folgezeit auf Dahoud aufmerksam, der in der Gladbacher Jugend schon seit langem als außergewöhnlicher Fußballer galt. In einem Vorbereitungsspiel gegen die Münchener Bayern brachte er den sonst so rational wirkenden Favre zum Zungeschnalzen. Was folgte, war keine einfache Zeit für Dahoud, von einer Verletzung zurückgeworfen sah er sich dem Erfolgsduo Xhaka/Kramer mit letzterem als Box-to-Box Player noch chancenlos gegenüber, musste sich gedulden, zurückarbeiten und über die U23 empfehlen. Als Kramer dann nach Ablauf seiner Leihe zurück zu Leverkusen ging, schlug Dahouds große Stunde. An der Seite Xhakas spielte er sich in der Mannschaft fest.
Wie bei jedem Talent, hatte auch seine Formkurve keinen linearen Verlauf: in der Hinrunde der laufenden Saison verlor er trotz teils starker Auftritte (auch auf internationaler Bühne) zunehmend an Kredit unter Ex-Trainer Schubert. Persönlicher Zwist, Systemumstellung, Dahouds leichtfertige Spielweise – viele Gründe standen im Raum und werden wohl nie abschließend geklärt werden. Seit Heckings Ankunft läuft es auch für Dahoud wieder rund: im gewohnten 4-4-2 mimt er als offensiver Sechser die kreative Schaltzentrale im Mittelfeld. Nicht erst seitdem Hecking auf der Gladbacher Trainerbank weilt gab es Spekulationen um einen Wechsel Dahouds in Richtung Ruhrgebiet, die sich jetzt bewahrheiten sollten: Mo schließt sich Borussia Dortmund an.
Hacke, Spitze, 1, 2, 3 – Dahoud zwischen Genialität und Wahnsinn
Wer die Spielweise eines Mo Dahoud genau verfolgt hat, weiß, dass er vornehmlich als offensiver Part einer Doppelsechs, als Achter und somit Box-to-Box Player eingesetzt werden kann. Dabei versteht es der dribbelstarke Mittelfeldspieler gekonnt, eben jenen Teil des Feldes mit schnellen, raumgreifenden Schritten zu überbrücken und die vor ihm spielenden Teamkollegen in Szene zu setzen. Nicht selten lässt Dahoud dabei geniale Momente aufblitzen: ähnlich eines Ilkay Gündogan besitzt er die Gabe, Pässe durch die Schnittstelle der gegenerischen Verteidigungsreihen zu spielen, die diese durchgleiten wie das berühmte Messer durch die Butter. In 1-gegen-1 Situationen weiß Dahoud sicht oft zu behaupten, zieht gekonnt Fouls und kann sich durch die Favre’sche Schule ein Sternchen ins Kurzpassheft kleben. Nicht zuletzt verfügt der deutsche U21 Nationalspieler über eine gute Schusstechnik aus der zweiten Reihe, die in gewissen Spielsituationen entscheidend sein kann. Zwar kann er insgesamt noch an seinen Abschlussqualitäten arbeiten, weißt auch hier aber sehr gute Anlagen auf. In fast jeder Situation behält Dahoud den Kopf aufrecht, welches ihm gepaart mit seiner ausgeprägten Spielübersicht Regisseursqualitäten auf der Position hinter der Zehn verleiht.
Dahouds Lieblingsbewegung scheinen dabei Pirouetten-ähnliche Dribblings in direkten Zweikämpfen zu sein, mit denen er im Idealfall den Gegner aussteigen lässt, durch seinen Antritt Räume zieht und das Spiel nach vorne beschleunigt. Eben hier liegt Dahoud zum Leidwesen der Gladbacher Fans jedoch oft an der schmalen Kante zwischen Genie und Wahnsinn: seine zu anfangs als frech und zwischenhin als arrogant bestitelte Spielweise führt in diesen Situationen noch allzu oft zu leichtsinnigen Ballverlusten, die insbesondere in Umschaltbewegungen für die eigene Abwehr tödliche Kontersituationen einleiten können. Auch sein Passspiel zeigt sich bisweilen in Drucksituationen als zu fehlerbehaftet. Zwar hat sich Dahoud, der als einer der Dauerläufer der Liga gilt, im Nachsetzen und seiner Zweikampfführung verbessert, kann hier jedoch weiter an sich arbeiten.
Ein weiteres Puzzleteil für Tuchel
Wie also ist Dahouds Transfer für die Dortmunder Mannschaft zu bewerten? Der aktuelle Tabellendritte gewinnt durch diese Neuverpflichtung in jedem Fall ein spielerisches Element im zentralen Mittelfeld hinzu, welches in der aktuellen Mannschaft seit dem Abgang Ilkay Gündogans nicht mehr zu finden ist. Auf dem Papier liest sich Dahoud aufgrund seiner fußballerischen Qualitäten als perfekte Ergänzung zu Julian Weigl, der Dahoud an seiner Seite oder etwas nach hinten versetzt die nötigen Freiräume im Spiel nach vorne verschaffen kann. Gleichzeitig ist Dahouds Pferdelunge wie gemacht für das pressingintensive Spiel der Dortmunder Borussia – seine spielgestalterischen Fähigkeiten aus der Tiefe kommend und genau diese Laufstärke sind wohl die Gründe, warum Dahouds als der Wunschspieler Tuchels für die Mittelfeldzentrale galt. Dahoud wird im Idealfalls also eine Planstelle in Dortmund besetzen, die Abgänge eines Sebastian Rodes oder eines Nuri Sahin wahrscheinlicher werden lassen. In einem 3-5-2 könnte Dahoud auch den Zehner mimen. Alles in allem macht der Transfer Dahouds für Dortmund auf allen Ebenen Sinn.
Und für die Borussia vom Niederrhein? Ohne Frage reißt der Abgang Dahouds ein Loch, schmerzt besonders, weil man (mal wieder) ein großes Talent aus dem eigenen Stall ziehen lassen muss. Insgesamt wiegt der Wechsel weitaus weniger schwer als der Transfer Granit Xhakas richtung Arsenal in der Vorsaison. Mit Laszlo Benes steht bereits ein vielversprechender Nachfolger im eigenen Kader, zudem hat Max Eberl angekündigt, die Ablösesumme X für Dahoud in einen weiteren Spieler für die Mittelfeldzentrale zu reinvestieren. Dahoud muss beim BVB nun beweisen, ob er noch an der Schwelle zur Zwischenprüfung steht oder schnell bereits ist für ein Meisterstück – es gibt noch genug Schwächen, die er dafür abstellen muss.