Der Transfer von Christoph Kramer zu Borussia Mönchengladbach ist einer dieser Wechsel, die man als unaufregend bezeichnen könnte. Es ist einer dieser Wechsel, die die fast schon neurotischen Züge eines Fans in Anbetracht eines Neuzugangs während der Transferphase gar nicht erst aufkommen lassen. Insbesondere in der letzten Zeit elektrisierten Gerüchte um die Zentrale der Mannschaft die Gladbacher Anhänger. Nervöses Tippen auf der Tastatur. Unverständnis über den Wechsel Sebastian Rodes zu seinem vermeintlichen Traumverein Borussia Dortmund. Mutmaßungen, welche sich schnell in Forderungen nach spektakulären Transfers jenseits der 20-Millionen-Marke ergötzten. Und dann kam es doch ganz anders: Christoph Kramers Vertragsunterschrift fühlt sich gar nicht erst an wie eine neue Verpflichtung, sie ist unspektakulär, was vor allem daran liegt, dass er nie wirklich weg war.
I´ll be back
Als Christoph Kramer die Bühne zur Pressekonferenz bei seiner Vorstellung betritt, wissen alle, was die Stunde geschlagen hat: er ist zurück an der Spielstätte, die ihm zu einem Teil des Weltmeisterkaders geformt hat, die er eigentlich gar nicht verlassen wollte, die für ihn eine echte Herzensangelegenheit ist. Christoph Kramer, der sich zuvor bereitwillig beim Medizincheck ablichten ließ (vielleicht keine so gute Idee, da er aussah, als hätte er die ganze Nacht in einem Mönchengladbacher Untergrundschuppen durchgezecht), begrüßt die Journalisten mit einem Lächlen. Dabei hallt sein damaliger Vergleich einer Rückkehr zu Leverkusen mit modernem Sklavenhandel still, aber unweigerlich durch die Katakomben des Borussia-Parks. Schon zum Ende seiner zweijährigen Leihe hatte Kramer deutlich gemacht, dass er am liebsten Teil der Mannschaft um seinen Mentor Lucien Favre geblieben wäre, hatte sich dann aber letztlich – ganz fairer Sportsmann, der er ist – mit seiner neuen Rolle in Leverkusen abgefunden. Der Kontakt zu Borussia sei jedoch nie abgebrochen – typisch Eberl und Borussia eben, die dafür bekannt sind, sich über Jahre hinweg um mögliche Spieler zu bemühen und eine enge Bindung zu denjenigen Spielern aufzubauen, die Teil des Vereins sind oder waren.
„Kampfansage“ statt Xhaka-Depression
Der Wechsel Kramers fuer bis zu 15 Millionen Euro ist eine Ansage: 5-Jahres Vertrag. Rückennummer 6. Damit setzt die Borussia ein eindeutiges Zeichen in der Nachfolgerfrage um Granit Xhaka. Der Abgang des Gladbacher Kapitäns, der den Verein in Richtung London verlässt, wiegt schwer. Seine Führungspersönlichkeit auf und neben dem Platz wird genauso fehlen, wie seine haargenauen Diagonalpässe, über nahezu das gesamte Spielfeld, mit denen er das Herz des Gladbacher Spiels der vergangenen Jahre bildete. Xhaka, den die Fans in Zeiten zunehmenden Unmuts über Vereinswechsel von Identitfikationsfiguren fast ausnahmslos zu seinem Wechsel beglückwünschen (was nicht zuletzt an Xhakas Bereitschaft, seinen Vertrag im Sinne des Vereins samt saftiger Ausstiegklausel für den Sommer 2017 zu verlängern), reißt eine Lücke; eine Lücke, die Kramer allegorisch zu seiner Spielsweise, verstehen wird zu stopfen. Christoph Kramer ist nicht nur gekommen, um zu bleiben – er ist gekommen, um zu führen. Kramer wird die 6er-Position anders interpretieren als Xhaka und damit wird sich auch die Spielweise der Gladbacher Mannschaft verändern. Kramer, der im Zusammenspiel mit Xhaka noch den offensiveren Part, den Box-to-Box Player, wie man es neumodisch nennen würde, in der Doppel 6 bildete, wird nun hinter Dahoud als defensiverer Fixpunkt agieren.
Mit seiner guten Balleroberung und läuferischen Stärke, welche ihn mit Dahoud wohl zur Zentrale mit den meisten zurückgelegten Kilometern im Spiel machen wird, verleiht dem Gladbacher Spiel in Zukunft Balance und Stabilität. War Borussias Defensive letzte Saison trotz der überraschenden Entwicklung eines Andreas Christensen oder eines Nico Elvedi großen Schwankungen unterworfen, zeigen die Transfers von Kramer und auch Vestergaard, dass Eberl und Schubert das Problem erkannt haben und bemüht sind, dies zu beheben. Eine von Kramers Schwächen kann als mangelnde Fähigkeiten in der Spieleröffnung ausgemacht werden – ein Attribut, welches von Xhaka in bester Manier eines Xabi Alonsons beherrscht wurde. Er passe aufgrund seines Profils nicht in das neue Schubert’sche System, monieren einige Anhänger. Kramer aber, mit einer großen taktischen Disziplin ausgestattet, soll vielmehr als Abräumer, als Lückenschließer, den Rücken eines Mo Dahouds freihalten, welcher sich dadurch noch freier und kreativer Ausleben kann. Somit wird Xhakas Spielweise zukünftig von beiden kompensiert. Gleichsam erfüllt Kramer auch ein weiteres Kriterium Eberls, der seit Jahren nach, wörtlich genommen, nach mehr Größe in der Schaltzentrale gefahndet hat. Mit seinen 1,91m wird Kramer Gladbach mit einer größere Lufthoheit ausstatten, die sich positiv auf die defensive Leistung, aber auch auf Standardsituationen in der Offensive, auswirken wird.
Fazit:
Welches System Schubert nächste Saison spielen lassen wird, ist eine zentrale Frage. Die Schlussphase der abgelaufenen Saison lässt jedoch darauf schließen, dass Borussia vermehrt mit einer Dreierkette und zwei polyvalenten Außenspielern (Wendt und Johnson) auftreten wird. Dies bedeutet, dass auf Kramer in der Zentrale auch gewisse Umschaltfunktionen zukommen werden, die er aufgrund seiner hohen Anlagen sicher zur Genüge erfüllen können wird. Eine weitere taktische Variante, in dem Kramer die alleinige Sechs hinter Dahoud und Stindl auf der 8 spielen würde, ist ebenfalls denkbar. Es ist Kramers defensive Stärke, die er in Leverkusen trotz einer mäßigen Hinrunde, teilweise sogar in der Innenverteidigung zum Ausdruck bringen konnte, die ihn im Gegensatz zu anderen gehandelten Kandidaten wie Youri Tielemans, unabdingbar für das Gladbacher Spiel machen wird. Zwar ist noch nicht abschließend geklärt, welchen zentralen Mittelfeldspieler Eberl noch an den Niederrhein lotsen wird (am ehesten wahrscheinlich ein Talent mit großem Potential nach oben), der Wechsel Kramers lässt jedoch keinen Zweifel daran übrig, dass er gesetzt sein wird.
Zu einer Zeit, in der Gladbachs Spiel in Xhaka und Stranzl auch seine etatmäßigen Kapitäne verliert, wird Kramer eine große Rolle spielen. Denkbar ist es sogar, dass er die Mannschaft zu Beginn der Saison als Spielführer auf dem Feld dirigieren wird. Nicht nur Kramers zentrale Position bietet sich dafür ausdrücklich an, es ist auch seine eloquente, leidenschaftliche Art, die ihn auf Jahre hinweg zum Anführer der Mannschaft machen könnte. Genau das verdeutlicht der Wechsel Kramers: man ist bereit, um ihn herum als große Konstante der Mannschaft, eine junge, hungrige Mannschaft weiterzuentwickeln. Kramer ist Borussias neue, alte Nummer 6, das etwas unspektakuläre Ausrufezeichen, welches den Gladbacher Fans aufgrund des fehlenden Überraschungsmoments zwar keine euphorischen Luftsprünge in Anbetracht des Wechsels entlockt, ihnen jedoch etwas ganz Wichtiges gibt: Sicherheit, Identifikation und Leidenschaft.
Autor: Julian Wacker