Wer ist in den letzten Jahren auf Schalke – wie man im besten Ruhrpottslang sagt – nicht alles als den Knappen ihr neues Wunderkind bezeichnet worden. José Manuel Jurado, Levan Kenia, Jan Morávek oder Eddie Glieder zum Beispiel konnten diesem Anspruch nie gerecht werden. Die Liste der Jugendspieler, die von den Medien im vergangenen Jahrzehnt als neue Schalker “Wunderkinder” genannt worden sind, liest sich zudem exklusiv: Nikon Jevtic, Marco Quotschalla, Leon Goretzka – während die erst genannten von der Bildfläche verschwunden sind, dürfte letzterer wohl am ehesten in diese elitäre Kategorie passen. Dann tauchen noch Skandalnudel und doch Hoffnungsträger Donis Advdijaj sowie Breel Embolo, der in der kommenden Saison richtig durchstarten möchte, auf unserem Zettel auf. Es scheint fast so, als sei es in Gelsenkirchen normal geworden, zwanghaft nach einem neuen Emile Mpenza oder Mesut Özil zu suchen, der bereits im Vorfeld über den grünen Klee gelobt wird. Beinhaltet die Kategorie “Wunderkind” also auch die Dimension, Ansprüche generell nicht erfüllen zu können? Schalke jedenfalls hat mit Amine Harit das nächste “Wonderkid”, wie ihn einst die UEFA auf ihrer Homepage bezeichnete, unter Vertrag genommen. Ob Harit dieses Label verdient und der Nummer 25 des “Hunters” gerecht werden kann, erfahrt ihr im Folgenden.
Vom Bordstein in den Schacht
Lokalredaktionen bedienen in den Geschichten, die sie um Transfers spinnen, ja gerne das fast sagenhafte Märchen vom Straßenfußballer aus dem Brennpunk zum Fußballprofi in der Luxusvilla. Auch im Fall Harit springen die üblichen Printmedien vor allem auf seine Geschichte an: geboren im Pariser Vorort Pontois dichtet man Harit aufgrund seiner Qualitäten im 1-gegen-1 gerne eine romantisierende Vergangenheit in den Fußballkäfigen der Stadt an. Das Talent Amine Harits wird früh erkannt, er spielt für den Red Star F.C., nebulös benannt nach einer bekannten Kreuzfahrtschiffflotte, Paris St. Germain und wechselt 2012 schließlich in die Jugendakademie des FC Nantes. Während er dort die Jugendmannschaften durchläuft und drei Jahre später in die Zweitvertretung des Klubs aufsteigt, zeigt sich Harit 2016 erstmals auf großer Bühne bei der U19 EM. Nachdem Harit im Finale den Neu-Leipziger Jean-Kevin Augustín mustergültig zum 1:0 bedient und auch mit Freund Ousmane Dembélé auf dem Feld steht, darf auch er anschließend den Pokal in die Höhe recken. Ludovic Batelli, Frankreichs U19 Coach, bescheinigt Harit dabei, vor allem hart an sich gearbeitet und sich stetig verbessert zu haben. Nun zieht es Harit ins Ruhrgebiet nach Gelsenkirchen, in eines der ehemaligen Zechenzentren der Bundesrepublik. Bald wird er den beeindruckenden Spielertunnel, der an einen Kohleschacht erinnert, durchschreiten – auf den Tribünen die Fans mit ihrer geballten Begeisterung und doch auch Erwartungshaltung an das neue Wunderkind zu begeistern versuchen.
Harit: Dribbelkünstler statt Flankengott
Wie lässt sich die Spielweise Harits treffend beschreiben? Sein ehemaliger Trainer beim FC Nantes, René Girard, ist nach eigener Aussage beeindruckt davon, wie Amine die Räume zwischen den Linien lesen und besetzen könne. Der zurvor angesprochene Batelli lobt seine starken Dribblings, Harit sei nur sehr schwer vom Ball zu trennen. Der Eindruck, den man durch Scoutingvideos gewinnt, bestätigt dies: Harit beweg t sich flink gegenüber seinen Gegenspielern, ist in seinen Dribblings sehr agil und verfügt durch seine Physis über eine ausgeprägte Balance, wodurch er nur schwer direkt zu stellen ist. Seine hohe Ballkontrolle und Leichtfüßigkeit führen nämlich auch dazu, dass Harit clever Fouls zieht, nicht umsonst war er in der vergangenen Saison einer der meistgefoultesten Spieler der französischen Ligue 1. Mannschaften sind geraten, ihn so taktisch zu verteidigen, dass sie die Passwege auf Harit zustellen und bereits vor ihm an den Ball kommen – hier sind Antizipation und Reaktionsschnelligkeit gefragt. Der junge Franzose präsentiert sich zudem pass- und kombinationssicher, bringt im Schnitt 82.4% seiner Pässe an den Mitspieler. Hierbei bevorzugt er das gepflegte Kurzpassspiel; obwohl er lange, öffnende Bälle ebenso beherrscht, findet man diese bei ihm über den Saisonverlauf gesehen eher selten (1.5 pro Spiel). Wenngleich Harit auf dem linken Flügel beheimatet ist und von JournalistInnen aus Frankreich schon als nächster Franck Ribery gehandelt wird (wahret den Wunderkind-Vergleich!), erinnert sein Spiel, sofern er auf der Zehnerposition aufläuft, abzüglich der Schussstärke vor allem an Hatem Ben Arfa.
Eine der Schwächen Harits auf der Außenbahn sind seine Flanken, die er zuletzt bei Nantes auch fast gänzlich eingestellt hat (0.3 pro Spiel). Wer von ihm also erwartet, das Sturmzentrum oder den aus dem Halbfeld herbeieilenden Leon Goretzka (sofern er noch da sein sollte), mit scharfen Hereingaben zu füttern, sollte seine Vorfreude etwas dämpfen. Harit erinnert in seiner Spielweise eher an den zuvor bei S04 gehandelten Ex-Gladbacher Amin Younes: ein Spieler, der mit Geschwindigkeit von außen in die Mitte und das letzte Drittel des Spielfelds zieht, um 1. Räume für die Mitspieler zu schaffen, 2. diese durch kluges Passspiel in aussichtsreiche Positionen zu bringen oder 3. das Foul zu ziehen. Letzteres bedeutet bei Schalke immer auch Gefahr vor dem gegnerischen Tor. Hier schließt das Team Heidel/Tedesco wohl gleich mehrere Baustellen.
In der defensiven Verbundsleistung muss der zwar agile, aber dadurch auch etwas schmächtige Harit zulegen. Ein Pluspunkt könnte hier sein, dass Schalke den Abgang Kolasinacs wohl mit Bastian Oczipka kompensiert, der durch seine Laufleistung Harit einige Freiheiten gewähren können wird. Ungeachtet dessen wird sich Harit hier unter Jungtrainer Tedesco weiter verbessern müssen. Er zeigt sich zwar unnachgiebig im Anlaufen des Gegners, muss jedoch noch lernen, sich in den Räumen, welche er offensiv gut zu lesen vermag, auch defensiv besser orientieren. Auch der Torabschluss, und das sieht Harit selbst ein, ist stark ausbaufähig – möchte sich Schalke hier in der Offensivreihe variabler aufstellen, sind Extraschichten nicht nur auf der gleichnamigen Kulturnacht im Ruhrgebiet, sondern auch auf dem Trainingsplatz nötig.
Konkurrent Nummer 1
Abwarten und Tee trinken – Tee trinkt man in Gelsenkirchen eher selten, Schnupftabak kommt bei den ehemaligen Kumpeln vom Pott besser an. Nachdem nun auch der letzte Stereotyp über den Malocherklub, der lange nicht Meister geworden ist, bedient worden ist, bleibt die Einschätzung, welche Rolle Harit unter Domenico Tedesco spielen kann, übrig. Tedesco, von einem unserer Redakteure zurecht als taktisches Chamäleon beschrieben, richtet die taktische Ausrichtung seiner Mannschaften gerne nach dem vorhandenen Personal aus. Hier bietet sich bei Schalke durchaus ein 4-4-2, 4-2-3-1, 4-3-3 oder 3-5-2 an. Harit dürfte sich auf links einen engen Konkurrenzkampf mit Yevgen Konoplyanka liefern. Bei einem Verbleib dürfte der ebenfalls als Wundekind titulierte Max Meyer, der zuletzt nicht überzeugte, duch Harit zusätzlichen Druck bekommen.
Fest steht jedenfalls, dass die Karten unter Tedesco völlig neu gemischt werden. Überzeugt Harit in der Vorbereitung, ist ihm ein Stammplatz zuzutrauen. Der Kader erfährt durch den Abgang Eric-Maxim Choupo-Motings auf links eine Verjüngungskur und Harit wurde sicher auch mit der Aussicht verpflichtet, zukünftig ein Transferplus bei Weiterverkauf zu generieren. Schalkes Offensive wird durch Harit jedenfalls variabler. Die nächste Saison wird zeigen, ob Schalke das lang ersehnte Wunderkind gefunden hat.