Paris: Auftritt Emmanuel Macron. Der designierte französische Präsident tritt nach Wahlgewinn zur Europahymne und eben nicht zu den Klängen der Marseillaise auf die große Bühne – ein Zeichen für europäische Beziehungen und gegen nationale Verengung. Ortswechsel: Mönchengladbach, Pressekonferenz in der Winterpause, Vorstellung des Neuzugangs Kolo. Während Pressesprecher Markus Aretz die Fragen der anwesenden Journalisten ins Französische übersetzt, stellt ein Pressevertreter die Frage an Max Eberl, wie dieser denn die Verhandlungen auf Französisch geführt habe. „Dafür hatte ich ja Steffen Korell, der hat anscheinend ganze Arbeit geleistet“, erwidert Eberl schmunzelnd. Korell, Ex-Borussen Spieler, ist der Mann im Hintergrund der sportlichen Führung, der bei einigen der letzten Transfers verstärkt seine Finger im Spiel hatte. Denn als Teammanager der Fohlenelf ist Korell gleichzeitig auch Eberls Chefscout. Ein Chefscout, der mittlerweile ein beachtliches Netzwerk in Frankreich aufgebaut zu haben scheint – verstärkt auf europäische Vernetzung zielend, während andere Vereine gewissenhaft den nationalen Talentemarkt abgreifen. Der vielumworbene Doucouré (zuvor Paris St. Germain) machte letzten Sommer den Anfang, nun folgt der 17-jährige Mickaël Cuisance. Der junge Franzose wagt also, ohne eine einzige Profisaison bestritten zu haben, den großen Schritt von der U19 des AS Nancy ins europäische Nachbarland – gleich der Botschaft Macrons überwiegt bei ihm Optimismus gegenüber Ängsten.
Europäische Reichweite – von Straßburg über die Equipe an den Niederrhein
Im Jahre 1999 erblickte Cuisance in Straßburg, bezeichnenderweise dem Sitz des europäischen Gerichtshofs, das Licht der Welt. Als Minikicker wird er in der Jugend des ortsansässigen FC Straßburg-Königshofen groß, ehe der variable Mittelfeldspieler nach mehreren Stationen zur Saison 2014 in die Jugend des AS Nancy Lorraine. Im gleichen Jahr debütiert er für die U16 , durchläuft seitdem bisher alle Jugendnationalmannschaften Frankreichs. Aktuell kommt er in der U18 der Équipe Tricolore zum Einsatz, nahm noch mit der U17 im letzten Jahr an der Europameisterschaft in Aserbaidschan teil. Dabei wuchs er immer stärker in eine Führungsrolle innerhalb der Mannschaft hinein, was ihm, gepaart mit den weiter unten aufgeführten Qualitäten im Spiel, zu einem der größten Talente Frankreichs in seiner Altersklasse macht.
Cuisance ist ein Spieler, der, so wird es zumindest an einigen Stellen berichtet, seinen Altersgenossen fußballerisch schon immer vorausgeeilt ist; dementsprechend hängt ihm zum einen der Ruf nach, arrogant im Verhältnis zu seinen früheren Mannschaftskollegen gewesen zu sein. Diese Unkenrufe, die ihn als enfant terrible charakterisieren, kommen nicht nur aus dem Elsass, in dem er fußballerisch beheimatet ist, sondern eben auch aus Nancy. Hier hat Cuisance das Angebot zu einem Profivertrag ausgeschlagen, soll sich angeblich schon mit Manchester City einig gewesen sein. Für Ärger sorgte vor allem die Tatsache, dass Cuisance die Jugendakademie der Citizens besucht haben soll, während er in der 105.000 Einwohnerstadt noch Verhandlungen geführt habe. Optimistischer, selbstbewusster Spieler trifft auf einen Verein, der ihn nicht ziehen lassen will und doch muss. In Anbetracht dessen sollte Cuisance‘ Verhalten nicht überbewertet werden. Wie dem auch sei: Cuisance entscheid sich augenscheinlich gegen Pep und für die – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – bessere Perspektive am Niederrhein.
Cuisance: Der neue Rakitic?
In den französischen Jugendmannschaften, welche ähnlich anderer Nationalverbände verstärkt auf systemaische Kontinuität setzen, kommt Cuisance vornehmlich auf der Achter Position als Box-to-Box Player zum Einsatz. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er eine gute Portion Offensivdrang mitbringt, diesen jedoch wohldosiert einzusetzen weiß. Manchmal auch auf die Zehn als Spielmacher vorgeschoben, vereint Cuisance Elemente in seinem Spiel, die ihn – je nach Spielausrichtung – variabel einsetzbar machen. Ein Umstand, den Max Eberl bei seiner Verpflichtung explizit betont hat. In einem 4-3-3, welches von Cheftrainer Dieter Hecking als mögliches System für die neue Saison in den Raum geworfen worden ist, kann er beispielsweise sowohl die offensive Interpretation der Doppel-Acht als auch die defensiv orientierte Variante einnehmen; hier ist er mit dem (jungen) Ivan Rakitic zu vergleichen, welcher diese Position heute in Paradeform bei Barca ausfüllt. Agilität und ein hohes Maß an Antizipationsfähigkeit verleihen ihm ein gutes Gespür im Passspiel, vor allem aber auch ein überzeugendes Stellungsspiel in der Arbeit gegen den Ball. Hinzu kommt eine überdurchschnittliche Ballkontrolle, welche Cuisance – zumindest in seiner Altersklasse – souverän in der Ballbehauptung und in Situationen auf engem Raum erscheinen lassen. Auch in einem möglichen 4-3-2-1, 3-4-3 oder 3-5-2 kann Cuisance den umschaltenden Antreiber im Mittelfeld mimen.
Der 17-Jährige besticht in seiner Altersklasse durch seinen dynamischen Auftritt und seine Laufbereitschaft – Eigenschaften, die ihn zumindest in dieser Kategorie ein wenig an Mo Dahoud erinnern lassen. Ähnlich des Deutsch-Syrers könnte Cuisance im derzeitigen 4-4-2 der Borussia langfristig den Part der vorgezogenen Sechs einnehmen, welche das Spiel beschleunigt und in der Umschaltbewegung aufzieht. Wenn wir schon bei diesem Vergleich sind, darf man nicht verschweigen, dass Cuisance, obwohl vier Jahre jünger als sein Pendant, ein noch besseres Gespür im defensiven Tackling besitzt. Natürlich müsste er dies auch noch auf dem gleichen Niveau beweisen wie Dahoud, verfügt hier aber über vielversprechende Ansätze. Agil, umtriebig, technisch versiert – Cuisance präsentiert sich auf dem Rasen im Spiel gegen druckvoll auftretende Mannschaften mehrheitlich pressingresistent. Sein Gespür für Raum und Zeit lassen ihn stark im Abfangen von Bällen als auch in der Einleitung von Angriffssituationen aussehen.
Genug des Lobes, kommen wir zu den Defiziten: Cuisance ist zwar beweglich im Dribbling und den Bewegungen, muss jedoch physisch noch etwas zulegen, um im Theater der Großen bestehen zu können. Derweil wirken seine Aktionen noch etwas zu eigensinnig. Er kann sich in der Abstimmung mit seinen Mannschaftskollegen verbessern und muss vor allem langfristig (und hier meine ich wirklich langfristig) lernen, einem Spiel seinen Stempel aufzudrücken – etwas, das auch einem Dahoud bisher nicht gelingt. Zwar hält Cuisance auch gerne mal auf das Tor, der Franzose kann jedoch auch im eigenen Abschluss tendenziell noch zulegen. Wie immer ist Cuisance dabei seinem Alter und den natürlichen Lern- und Reifeprozessen eines Fußballers unterworfen. Trifft er auf eine weiterhin gute taktische Schulung, ist ihm eine ähnliche Entwicklung zuzutrauen, wie sie momentan László Bénes in der Gladbacher Mannschaft nimmt.
Gesunder Optimismus ist gut, doch wahret den Erwartungen!
Trotz allen Lobes muss man auch realistisch bleiben: Cuisance muss sich in Gladbach in Ruhe entwickeln können. Hier greift der anfängliche Macron-Vergleich, der bereits jetzt als neuer Heiland für Frankreichs Gesellschaft stilisiert wird. Beide, Macron und Cuisance – in ihrem Metier gewissermaßen Newcomer -, werden sich an den Vorschusslorbeeren messen lassen müssen. In Gladbach trifft Cuisance, der wohl, so scheint es derzeit zumindest, zunächst über die U23 auf sich aufmerksam machen soll, auf starke Voraussetzungen: nicht nur bekommt er die Ruhe, sich zu entwickeln, sondern reiht sich mittlerweile in einen französisch-sprachigen Block von Spielern ein, die ihm die Eingewöhnung erleichtern werden: Juwel Doucouré, Kolo, Ibo Traoré, Thorgan Hazard sind alles französische Muttersprachler. Hinzu komme die Schweizer Yann Sommer, Nico Elvedi und Djibril Sow – Cuisance wird Ansprechpartner und Bezugspersonen haben, das ist gewiss. Die Abläufe auf dem Platz werden durch die zunehmende Verständigung auf Franzözisch fließender. Auf Dauer wird er unter Beweis stellen müssen, ob er seinen Status als großes Talent seiner Generation rechtfertigen kann. Steffen Korell, dem Schattenmann Eberls Seite ist jedoch ohne Zweifel ein weiterer Coup auf dem Talentemarkt gelungen, welcher die Fohlenelf hinter Borussia Dortmund zur heißesten Nummer für internationale Talente in Deutschland werden lässt. Cuisance ist und bleibt zunächst ein weiteres großes Talent der boomenden französischen Akademien, die weiterhin auch von der pro-europäischen Orientierung Macrons profitieren werden.